Professor Hengartner erklärt
Sicher im Schnee

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft.
Publiziert: 06.01.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.03.2021 um 11:32 Uhr
Michael Hengartner

Haben Sie eigentlich ein Lieblingsgeräusch? Das Rauschen des Meeres? Das Knistern von Feuer? Oder die überbordende Lebensfreude eines Schulhofs in der 10-Uhr-Pause? Für mich, durch lange kanadische Winter geprägt, ist etwas vom Schönsten das Knirschen von Schnee. Man spaziert durch eine Winterlandschaft, die Luft ist kalt und klar, die Sonne scheint durch die tief verschneiten Tannen, der Schnee glitzert wie tausend Edelsteine, es ist wunderbar still, und von unter den Schuhen kommt dieses knarrende «Krrrt, krrrt». Da überkommt mich beim Schreiben die Lust auf eine Schneeschuhtour!

Gerade jetzt sind viele Leute draussen unterwegs. Das macht Sinn: Die meisten Skigebiete sind zu, grosse Ansammlungen sollte man meiden, und Bewegung an der frischen Luft ist gesund. Also schnallt man die Tourenski an die Füsse, holt die Schneeschuhe hervor oder macht eine Winterwanderung in der schönen Natur. – Aber bevor man einfach so loszieht, checkt man die Lawinensituation.

Das Schweizer Lawinenbulletin gibt es jetzt schon seit 75 Jahren. Und es wurde im Laufe der Jahre stark ausgebaut. Am Anfang gab es nur ein Bulletin pro Woche, und dieses war naturgemäss noch nicht allzu genau. Damals gab es erst 20 Schneebeobachter – und diese mussten ihre Erkenntnisse noch per Fernschreiber in die Zentrale nach Davos melden. Heute erscheinen zwei Bulletins am Tag, es gibt fast zweihundert automatische Messstationen, und die Zahl der Beobachter hat sich verzehnfacht.

Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rats und Kolumnist im SonntagsBlick Magazin. Zuvor war der Biochemiker Rektor der Universität Zürich.
Foto: Nathalie Taiana

Die Beobachterinnen und Beobachter sind für das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF auch heute noch enorm wichtig. Ruth Moor-Huber beispielsweise schaut sich jeden Morgen früh die Schneesituation in Gadmen im Berner Oberland an, misst Schneehöhe und Neuschneemenge, hält nach Lawinenniedergängen Ausschau und meldet ihre Resultate per Internet zuverlässig nach Davos. Filippo Genucchi wiederum ist als Sicherheitschef am Lukmanierpass viel im Gelände unterwegs und meldet seine Messresultate und Beobachtungen ebenfalls ans SLF. Dort müssen die Experten eine riesige Fülle von Daten verarbeiten. Wie dick ist die Schneedecke? Wo hats kürzlich geschneit? Wie steil ist der Untergrund? Ist der Schnee luftig oder kompakt? Wo hats getaut? Das alles fliesst ins Bulletin ein. Und das für 149 Warnregionen im Jura und in den Alpen.

Geschrieben wird das Bulletin jeden Tag von drei Expertinnen und Experten in Davos. Und weil die Satzbausteine vordefiniert sind, kann der Text automatisch in vier Sprachen übersetzt werden. In den letzten 75 Jahren hat der Schneesport massiv zugenommen, und viele Leute sind abseits der Pisten unterwegs. Trotzdem ist die jährliche Zahl der Lawinenopfer stabil geblieben. Das liegt auch an der wertvollen Arbeit des SLF in Davos. Ich wünsche Ihnen also ein sicheres Wintervergnügen – und starten Sie gut ins neue Jahr!

PS. Das Lawinenbulletin gibt es inzwischen auch als Gratis-App fürs Handy. Sie heisst «White Risk».

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