Professor Hengartner erklärt
Superspreader-Events

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft. Diese Woche: Wie wir mit dem Rückwärts-Tracing Superspreader-Events identifizieren können.
Publiziert: 22.11.2020 um 11:14 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2021 um 17:45 Uhr
Michael Hengartner

Er hätte die Welt umarmen können – und tat es auch. Für den Vater der Braut war es einer der schönsten Tage seines Lebens – und hinterher einer der tragischsten: Der Brautvater infizierte 76 Hochzeitsgäste mit dem Coronavirus. Die Geschichte hat im März in Jordanien stattgefunden, ähnliche Fälle kennen wir aber auch von einem Elsässer Gottesdienst im letzten Februar, von der Beizentour eines Südkoreaners im Mai oder vom Jodel-Musical in Schwyz. Superspreader-Events («Super-Anstecker-Anlässe») sind Situationen, in denen ein Mensch besonders viele andere Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Sie spielen bei der Verbreitung des Virus eine entscheidende Rolle.

Wenn es um die Verbreitung von Corona geht, wird viel über «R» geschrieben – die durchschnittliche Anzahl Menschen, die ein Infizierter oder eine Infizierte ansteckt. Aber R ist eben nur ein Durchschnitt. Tatsächlich sind die Ansteckungen sehr ungleich verteilt. Studien zeigen, dass die Mehrheit der Infizierten überhaupt niemanden ansteckt. Dass sich Corona dennoch so stark ausbreitet, liegt an ein paar wenigen, die besonders viele infizieren. Laut einer englischen Studie könnten 10 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Ansteckungen verantwortlich sein. Andere Forschende nennen etwas vorsichtigere Zahlen. Aber sicher ist: Superspreader-Events tragen ganz wesentlich zur Verbreitung des Virus bei – und das ist für uns eine Chance. Denn wenn wir herausfinden, wie diese entstehen, können wir genau dort eingreifen.

Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rats und Kolumnist im SonntagsBlick Magazin. Zuvor war der Biochemiker Rektor der Universität Zürich.
Foto: Nathalie Taiana

Was braucht es also für einen Superspreader-Event? Leider wissen wir es noch nicht genau. Es kann sein, dass es zum Teil mit der Person selbst zu tun hat. Vielleicht hatte der jordanische Brautvater eine besonders hohe Virenlast. Wahrscheinlicher ist aber, dass er viele Gäste geküsst, viele Hände geschüttelt, laut gesungen und gesprochen hat. Mehrere Studien legen nahe, dass die Kombination von geschlossenen Räumen mit schlechter Belüftung, engen Platzverhältnissen und Nahkontaktsituationen ideale Bedingungen für Superspreader-Events darstellen. Für die Gesangsprobe sind das schlechte Nachrichten. Für das Stand-up-Paddeln hingegen gute.

Auch für das Contact Tracing sind die Superspreader-Events interessant. Heute schauen wir, wen ein Infizierter alles angesteckt haben könnte. Wir sollten aber auch vermehrt darauf achten, wo er sich angesteckt hat (mit sogenanntem Rückwärts-Tracing). Denn wenn man merkt, dass mehrere Corona-Positive an derselben Geburtstagsparty waren, macht es Sinn, auch die übrigen Gäste zu testen. Diese könnten sehr gut auch infiziert sein, aber womöglich mit nur schwachen oder gar keinen Symptomen. Mit Rückwärts-Tracing liessen sich gezielt viele zusätzliche Übertragungsketten unterbrechen.

Heute verstehen wir die Verbreitungswege von Corona sehr viel besser, und unsere Massnahmen zur Eindämmung sind viel gezielter. Kommt es zusätzlich auch mit der Impfung so gut, wie es im Moment aussieht, dann haben wir im Kampf gegen Corona wirklich gute Perspektiven.

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