BLICK unterwegs im «neuen» Manhattan
New York ist sich selbst fremd geworden

Die Corona-Pandemie hat in New York Zehntausende Menschenleben gefordert, Tausende Unternehmen in den Ruin getrieben und eine Viertelmillion Menschen aus der Stadt vertrieben. Ein Blick auf die Stadt, die schon so manche Krise bewältigt hat.
Publiziert: 11.10.2020 um 22:47 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2020 um 21:03 Uhr
Nicola Imfeld aus New York (USA)

New York, Manhattan, Times Square um Mitternacht: Die überdimensionalen LED-Bildschirme erstrahlen farbenfroh, wechseln hektisch die Werbeanzeigen. Bei der Kreuzung zum Broadway wartet ein gelbes Taxi auf Grün, an der Strassenecke der Verkäufer vom Hotdog-Stand auf Kundschaft. In normalen Zeiten würden sich hier in Midtown Manhattan auch zu dieser späten Stunde Tausende Menschen aneinander vorbeidrängen. Doch der Stadt, die niemals schläft, sind die Touristen ausgegangen. Und die New Yorker haben sich hingelegt.

Wenige Stunden zuvor, unter der Oberfläche: Die Subway fährt endlich ein. Keiner steigt aus. Im Waggon sitzen ein Dutzend Leute, alle Gesichter sind hinter einer Maske verborgen. Nur eine ältere Frau steht, hält sich an einer Stange fest – die Hände in Schutzhandschuhe gepackt. Es ist Montagabend, kurz nach 18 Uhr, Rush Hour, und niemand steht sich auf die Füsse. «Die Menschen haben immer noch Angst, die Subway zu nehmen», sagt Heiko Timm (35), ein Deutscher, der in Manhattan lebt.

Timm hat mit seiner Freundin und den rund acht Millionen New Yorkern in den vergangenen Monaten einen Albtraum durchlebt. Über ein halbes Jahr ist es her, dass Gouverneur Andrew Cuomo (62) wegen der Covid-19-Pandemie den Lockdown ausgerufen hat. «Manhattan wurde über Nacht für drei Monate zur Geisterstadt», erinnert sich Timm. Es war die Zeit, in der New York City das Corona-Epizentrum der Welt war. Die Spitäler überfüllt, die Leichenwagen im Dauereinsatz. Allein in der Stadt raffte das Virus in diesen Wochen 23'000 Menschen dahin, im Bundesstaat insgesamt über 30'000.

Der Corona-Horror vom Frühjahr steckt den New Yorkern noch in den Knochen: Fast jeder trägt in Manhattan eine Schutzmaske.
Foto: keystone-sda.ch
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«Wir haben die Hölle durchgemacht»

Seit dem Horror-Frühling sind die Fallzahlen stark gesunken. Im Sommer wurden einige Lockerungen eingeleitet. Die Angst aber weicht nur langsam, der Respekt vor der Pandemie bleibt dauerhaft. Nirgendwo sonst in den USA tragen die Menschen so diszipliniert eine Schutzmaske wie in New York, ob beim Spazieren oder beim Sport. «Der Unterschied ist, dass wir hier wirklich die Hölle durchgemacht haben. Jeder New Yorker kennt jemanden, der an Covid-19 erkrankt oder gestorben ist», sagt Timm.

In der Stadt wird die Krise mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder mit dem verheerenden Hurrikan Sandy im Jahr 2012 verglichen. Doch anders als diese Schreckensereignisse dauert die Pandemie an, für unbestimmte Zeit. Mit den sinkenden Temperaturen sind die Fallzahlen wieder in die Höhe geschnellt. Vor wenigen Tagen wurden in einigen Bezirken die Massnahmen wieder hochgefahren. «Es wird Jahre dauern, bis sich die Stadt auch nur ansatzweise erholt hat und die übliche Anzahl Leute kommt», glaubt Timm.

Flucht aus New York – Menschen und Firmen verlassen Manhattan

Es sieht düster aus. Die Kultur, die in New York einen immensen Stellenwert hat, ist auf der Intensivstation. Kino, Theater, Konzerte – alles liegt brach. Die Subway ist schon bankrott. Und jetzt laufen der Stadt auch noch die Menschen davon. Im Sommer kam es zu einer regelrechten Flucht aus Manhattan. Umzugswagen prägten das Strassenbild. Überall stapelten sich Kisten, Müll und Möbel. Eine Viertelmillion Menschen haben seit Beginn der Pandemie New York City den Rücken gekehrt.

Einer davon ist der gebürtige Österreicher Michael Schwartz (34). «In der Stadt lebt man wie in einer Schuhschachtel. Weil ausserhalb die Immobilienpreise gesunken sind, habe ich mir ein Haus in den Hamptons gekauft – mit viel mehr Platz.» Der Amerikaner Kevin Papilla (36) musste mit seiner Freundin aus finanziellen Gründen wegziehen. «Die Einkünfte blieben aus, wir konnten uns die Miete schlicht nicht mehr leisten. Jetzt sind wir schweren Herzens nach Kalifornien zurückgekehrt», sagt er. Der Traum vom Leben in New York City: vorbei.

Die Zahl leerstehender Mietwohnungen in Manhattan ist derzeit so hoch wie seit 14 Jahren nicht mehr. Und auch die Firmengebäude verwaisen. «Der Arbeitgeber meiner Freundin hat 34 Stockwerke mit 6000 Arbeitsplätzen», rechnet Timm vor. «Derzeit arbeiten da sechs Leute im Büro», sagt er. Dass dereinst die rund 1,6 Millionen Pendler wieder täglich in die Stadt strömen, scheint ausgeschlossen. Viele Unternehmen haben den teuren Büroflächen abgeschworen und Homeoffice-Pläne angekündigt.

Legendäres Restaurant steht nach 112 Jahren vor dem Ruin

Manhattan, East Village, kurz vor 19 Uhr: Es ist ein lauer Herbstabend, Mitte der Woche. Leo Osmani (26), Restaurant-Manager des legendären John's, deckt einen der vier Tische im Aussenbereich des Lokals. Gäste sind keine da. «Uns bleibt nur das Warten», sagt er und lächelt.

112 Jahre alt ist das John's. Es hat die Spanische Grippe im Jahr 1917 überstanden, den Ersten und Zweiten Weltkrieg und alle späteren Krisen. Doch im Frühling während der Pandemie musste das preisgekrönte Restaurant erstmals in seiner Geschichte schliessen. «Wir entliessen 90 Prozent unserer Belegschaft», erzählt Osmani.

Der gebürtige Kosovare durfte als Manager bleiben und war an vorderster Front dabei, als das Restaurant im Sommer wieder öffnete. Doch das Loch in der Kasse stopft niemand. Die Touristen bleiben aus, die New Yorker sind verängstigt. «Es tut weh. Die Zukunft ist höchst ungewiss. Und wir sind nicht allein mit diesem Schicksal», sagt er.

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Ein Drittel der Kleingeschäfte hat für immer geschlossen

Dabei ist das John's noch in einer privilegierten Situation. Seit Frühling haben über 5000 Geschäfte geschlossen, die Hälfte davon permanent. Laut einer Hochrechnung der «New York Times» dürfte rund ein Drittel aller Kleinunternehmen wie Restaurants, Bars und Läden nie mehr zurückkehren. Adan Malek (32), Inhaber eines kleinen Lebensmittelladens, ist die Verzweiflung anzusehen. «Ob ich das durchstehe? Glauben Sie an Wunder?», fragt er verbissen. 70 bis 80 Prozent an Einnahmen habe er seit März eingebüsst. «Nur die Ausgaben wie etwa die Miete sind geblieben. Wenn es jetzt zurück in einen Lockdown geht, dann kann hier der Letzte das Licht löschen», sagt er.

Zuversichtlicher klingt Oli Grieb (46). Er bietet seit Jahren Individualtouren durch New York an. «Ich habe bestimmt 100'000 Dollar an Einnahmen verloren», sagt er. Der Auswanderer aus Deutschland steht finanziell dennoch gut da, weil seine Frau noch Vollzeit arbeitet. «Und ich habe eine treue Kundschaft – auch aus der Schweiz. Sobald der erste Flieger aus Europa landet, bin ich wieder ausgebucht», ist er sich sicher.

Die Stadt verändert sich auf Dauer, der Optimismus bleibt

New York, Oktober 2020: eine Stadt zwischen Verzweiflung, Wehmut und Hoffnungsschimmer. In der Pandemie hat man bereits Zehntausende Menschenleben verloren, Tausende Unternehmer mussten ihren Lebenstraum über Nacht aufgeben, ausgestanden ist noch nichts. Und doch begegnet man zuweilen diesem ureigenen New Yorker Optimismus – dem Selbstverständnis einer Stadt, die schon so manche Krise bewältigt hat.

«Manhattan wird die nächsten Jahre lokaler sein. New York für die New Yorker, das hat doch auch was», sagt Heiko Timm. Wo Träume platzen, entstehe Platz für Neues. Das gilt in dieser Stadt so sehr wie wohl nirgendwo sonst auf der Welt. Manhattan wird auf Dauer anders sein. Doch man spürt: Das New Yorker Comeback wird kommen. Irgendwann wird die Stadt wieder erwachen.

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Am 3. November 2020 fanden in den USA die Präsidentschaftswahlen statt. Der amtierende Präsident Donald Trump konnte sein Amt nicht verteidigen. Herausforderer Joe Biden hat die Wahl für sich entschieden.

Alle aktuellen Entwicklungen zu den Wahlen und Kandidaten gibt es immer im Newsticker, und alle Artikel zum Thema finden Sie hier auf der US-Wahlen-Seite.

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