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BLICK in West Virginia – der Hotspot der Opioid-Epidemie in den USA: Was hat Trump erreicht?
400'000 sind tot, Gary hat überlebt

Die Opioid-Epidemie in den USA hat bereits 400'000 Menschenleben gekostet, und die Corona-Pandemie verschlimmert das Elend. Donald Trump hat versprochen, die Misere zu bekämpfen. BLICK hat im Drogen-Hotspot West Virginia den Ex-Süchtigen Gary (46) besucht.
Publiziert: 06.07.2020 um 22:56 Uhr
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Aktualisiert: 24.10.2020 um 21:03 Uhr
Nicola Imfeld aus Morgantown (USA)

Gary ist arbeitslos, obdachlos, drogenabhängig. Seit 26 Jahren. Während andere zur Arbeit gehen, nimmt Gary Pillen. Zum Frühstück. An einem Morgen im Frühling 2017 hat er keine zur Hand. Die Folge: Schmerzen. Mal wieder. Aber etwas ist diesmal anders. Gary spürt bald seine Beine nicht mehr. Die Intensität nimmt zu. So schlimm war es noch nie. Gary kann nicht mehr. Will nicht mehr. Dann trifft er die beste Entscheidung seines Lebens: Er greift zum Telefon.

Morgantown, West Virginia, USA, fast drei Jahre später: Gary lächelt. Er trägt eine Mütze, einen schwarzen Pulli, blaue Jeans. Nur der hinkende Gang erinnert an seine Vergangenheit. «Hierhin habe ich damals angerufen», sagt Gary und zeigt auf den Eingang des Spitals der West Virginia University. «Ich habe geweint, konnte nicht richtig sprechen. Ich habe gefleht. Die Frau hat mich verstanden. Ich habe ihr gesagt, dass ich in dieses Entzugsprogramm müsse. Sofort.»

Gary ist einer von vielen. 2018 haben über zehn Millionen Amerikaner missbräuchlich Opioide eingenommen. Rund 400'000 Menschen sind seit 1999 der Opioid-Krise zum Opfer gefallen. West Virginia ist der Hotspot dieser Epidemie, die nichts mit einem Virus zu tun hat. Kein anderer US-Bundesstaat weist eine höhere Todesrate auf. «West Virginia ist ein Industriestaat. Viele Menschen gehen hier einer physisch belastenden Arbeit nach. Sie klagen über Schmerzen, waren die perfekten Opfer der Pharmaindustrie», erklärt James Berry, Psychiater am Universitätsspital in Morgantown.

Gary ist ein Opfer der Opioid-Krise in den USA: Er war 26 Jahre lang abhängig von Schmerzmitteln.
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Lob für Trump, Kritik an Obama

BLICK hat den Drogen-Hotspot West Virginia im März besucht, unmittelbar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in den USA. Damals spürte man noch Hoffnung. Erstmals nach zwei Jahrzehnten kamen gute Nachrichten: Im Jahr 2018 gab es erstmals seit Anfang der 1990er-Jahre weniger Opioid-Tote als im Vorjahr. In West Virginia und landesweit. Nun befürchtet Berry einen erneuten Anstieg der Drogenopfer. «Die Corona-Pandemie ist Gift für unsere Bemühungen. Das Schlimmste, was einem Süchtigen in Behandlung passieren kann, ist Isolation. Und genau das müssen nun alle tun.»

Von der amerikanischen Politik erwartet Berry schnelles Handeln. «Ich bin besorgt. Der Fokus liegt derzeit auf der Corona-Pandemie. Dabei hätte die Opioid-Epidemie schon lange eine ebenso grosse Aufmerksamkeit verdient», sagt er. Donald Trump hat versprochen, die Epidemie zu bekämpfen. «Er hat vor Corona immerhin mehr unternommen als sein Amtsvorgänger», sagt Berry.

Der US-Präsident rief wenige Monate nach seinem Amtsantritt wegen der Opioid-Epidemie den medizinischen Notstand aus. Im Herbst 2019 gab seine Regierung bekannt, sechs Milliarden Dollar für die Bekämpfung der Krise über den Zeitraum von zwei Jahren lockerzumachen. 1,5 Milliarden Dollar sollen direkt an die Bundesstaaten gehen. «Ein symbolischer Akt und insgesamt etwas mehr Geld. Trumps Effort ist löblich, besser als Barack Obamas Einsatz. Aber es ist bei weitem nicht genug, um die Epidemie in den Griff zu bekommen», sagt Berry. Und die Aussichten sind düster: Wegen der Corona-Pandemie und der folgenden Rezession wird in Zukunft kaum mehr Geld fliessen.

Imfelds US-Wahlcountdown

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Von der Strasse ins Gefängnis und zurück

High Street, Zentrum von Morgantown: Der Name sagt es – die Strasse ist ein Schmelztiegel der Drogenabhängigen. Auch Gary, heute 46-jährig, lebte und dealte hier. Als 17-Jähriger kommt er auf die schiefe Bahn. Wegen der Pharmaindustrie und seines damaligen Arztes. «Nach einer Hernienoperation wurde mir Percocet verschrieben. Sechs Monate lang kriegte ich praktisch so viele Pillen, wie ich wollte.» Gary wird vom Medikament, laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein stark wirkendes Opioid, abhängig.

Als er legal keine Pillen mehr bekommt, sucht er sie auf der Strasse. Er wird schnell fündig. «Weil die Ärzte diese Medikamente in den 1990er-Jahren in Massen verschrieben haben, lagern die Menschen Unmengen zu Hause», sagt James Berry. Die Folge ist ein riesiger Schwarzmarkt – die Menschen süchtig, die Strassen geflutet von Pillen. Gary: «Man konnte es überall kaufen. Es war kein Problem.»

Der Teufelskreis beginnt: Gary verliert Job und Freunde. Nach einigen Jahren auch seine Familie. Er wird obdachlos, landet für drei Jahre im Gefängnis, weil er seine Grosseltern mehrfach beklaut und in ihrem Namen Schecks ausgestellt hat. Nach dem Knast wird Gary zum Dealer. Zwölf Jahre lang vertickt er Kokain, Heroin und vieles andere. Selber bleibt er den Pillen treu. Anders als viele andere steigt er nie auf Heroin um – ein wesentlich günstigeres Opioid. «Das hat mir das Leben gerettet», sagt Gary heute.

Trump nutzt Opioid-Epidemie für seine Grenzmauer aus

James Berry behandelt seit Jahren Patienten wie Gary. Sie kommen in ein Entzugsprogramm des Spitals, müssen anfangs täglich, später wöchentlich Pflichtaktivitäten nachgehen. Voraussetzung zur Aufnahme: clean. Keine Drogen, auch kein Alkohol. «Zu Beginn helfen wir den Menschen natürlich, damit sie sich von den Opioiden lösen können. Dann aber verlangen wir, dass jeder Test negativ ist», sagt Berry. Kürzlich hat sein Spital eine zweite Klinik eröffnet, um die Kapazitäten zu erhöhen. «Es ist so schlimm wie noch nie zuvor. Und leider ist die Epidemie wohl noch lange nicht ausgestanden.»

Das Thema war in Washington schon vor der Corona-Pandemie in den Hintergrund gerückt. Wenn, dann benutzt Trump die Opioid-Krise, um für den Bau seiner Grenzmauer zu werben. Der US-Präsident behauptet, dass über die mexikanische Grenze ein Grossteil der Drogen ins Land komme. Deshalb sei eine Grenzmauer so wichtig. Berry dazu: «Es ist tragisch, wie die Politik das Thema ausnutzt. Die Opioid-Epidemie wurde durch amerikanische Pharmakonzerne ausgelöst. Nicht durch die Mexikaner.»

«Ich habe Angst vor einem Rückfall»

Gary indes geniesst sein neues Leben. «Mein zweites Leben, das mir Gott geschenkt hat», sagt er. Seit bald 1000 Tagen ist er sauber. Er hat eine Verlobte, die dieselbe Entzugsklinik besucht wie er. Gary besitzt auch eine eigene Sportbar, die er im Zentrum von Morgantown eröffnet hat. «Das beste Essen in der Stadt», betont er. Momentan ist sie wegen Corona geschlossen, Gary musste erfinderisch werden. «Ich liefere jetzt halt Essen aus.»

Mit seinen 46 Jahren steht Gary heute mit beiden Beinen im Leben, er sagt aber auch: «Ich habe immer Angst, dass ich plötzlich rückfällig werden könnte.» Ganz über den Berg ist ein Süchtiger nie. Gary aber ist weit gekommen. Hunderttausende Amerikaner stehen noch am Fuss des Bergs. Und werden wohl sterben, bevor sie die Kraft für die lange und steinige Wanderung aufbringen können.

Opioid-Epidemie in den USA

Rund 68'000 Menschen sind 2018 in den USA an einer Drogenüberdosis gestorben – über 46'000 durch Opioide. Seit einigen Jahren sterben mehr Amerikaner an der Einnahme von Opoiden als durch Autounfälle und Waffen. Die Epidemie hat sogar dazu geführt, dass die Lebenserwartung in Amerika zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder sinkt.

Opioide sind synthetisch hergestellte Substanzen, die eine morphinähnliche Wirkung haben. Heroin ist das bekannteste Opioid. Es gibt zahlreiche industriell hergestellte Opioide wie die Medikamente Oxycodone und Hydrocodone, die in den USA massenweise als Schmerzmittel verschrieben werden – und auch auf dem Schwarzmarkt leicht erhältlich sind.

Am Anfang der Opioid-Krise steht das verschreibungspflichtige Schmerzmittel Oxycontin, das die Familie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma 1996 auf den Markt brachte. Dass die Suchtproblematik bereits in den 1920er-Jahren bekannt war, wurde erfolgreich verdrängt. Purdue hat das Schmerzmittel bei den Ärzten aggressiv beworben – als schmerzstillend und vermeintlich harmlos. «Das war gezielte Manipulation. Die Unternehmerfamilie wusste genau über die Gefahren Bescheid», sagt James Berry, Psychiater am Universitätsspital in Morgantown (West Virginia).

Synthetische Opioide sorgen für die drittgrösste Epidemie in der Geschichte der USA. Nur die Spanische Grippe 1918 und die Aids-Epidemie mit jeweils fast einer halben Million Opfer forderten mehr Menschenleben. Die Schuldigen werden nun zur Rechenschaft gezogen. In Oklahoma hat die Staatsanwaltschaft den Pharmagiganten Johnson & Johnson, der Opioid-Schmerzmittel für den Massenmarkt herstellte, auf 17 Milliarden Dollar verklagt. In anderen Bundesstaaten kam es zu Sammelklagen, viele Zivilprozesse sind noch im Gang. (nim)

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