«Wir müssen uns jetzt auf den Herbst vorbereiten»
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Taskforce-Chefin Tanja Stadler:«Wir müssen uns jetzt auf den Herbst vorbereiten»

Taskforce-Chefin Tanja Stadler (40) warnt vor steigenden Infektionszahlen und zu viel Lockerheit im Umgang mit Corona
«Das hat nichts mit Panik zu tun, sondern mit Weitsicht»

Mit dem Ende der Maskenpflicht ist die Pandemie auch in den Köpfen vieler Schweizerinnen und Schweizer beendet. Die Leiterin der Corona-Taskforce, Tanja Stadler, warnt aber vor zu viel Zuversicht. Für den Herbst müsse man sich bereithalten.
Publiziert: 01.03.2022 um 04:02 Uhr
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Aktualisiert: 01.03.2022 um 08:44 Uhr
Interview: Sarah Frattaroli und Ruedi Studer

Der Ukraine-Konflikt hat die Corona-Pandemie innert Tagen beinahe vergessen gemacht. Dabei hat die Schweiz erst vor kurzem den bisher wohl entscheidendsten Lockerungsschritt seit dem Pandemie-Ausbruch vollzogen: Sie hat Masken- und Zertifikatspflicht grossflächig abgeschafft. Blick hat Tanja Stadler (40), Chefin der Corona-Taskforce, zum virtuellen Interview getroffen und wollte von ihr wissen, wie sich die Massnahmenlockerung auswirkt. Und ob wir die Pandemie trotz wieder leicht steigender Zahlen endgültig überstanden haben – oder ob im Herbst die nächste böse Überraschung droht.

Massnahmenlockerung

Blick: Die Maskenpflicht ist weitgehend gefallen. Tragen Sie trotzdem noch Maske?
Tanja Stadler: Ja, zum Beispiel beim Einkaufen. Ich tue das einerseits, um mich vor einer Ansteckung zu schützen, und andererseits aus Solidarität gegenüber gefährdeten Menschen.

Damit sind Sie aber ziemlich alleine. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Es ist eine Realität, dass das Risiko von Infektionen nun steigt. Masken sind eine physische Barriere, die nun wegfällt.

Taskforce-Chefin Tanja Stadler warnt davor, die Pandemie vorzeitig für beendet zu erklären.
Foto: STEFAN BOHRER
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Aber die Zahlen zeigen doch, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wir haben den Höhepunkt der Omikron-Welle dank der hohen Immunität fürs Erste hinter uns. Zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Bevölkerung haben sich seit Anfang Jahr mit Omikron infiziert. Wenn ich infiziert bin, ist die Wahrscheinlichkeit kleiner, dass ich auf jemanden treffe, der nicht schon immun ist. Die Auswirkungen der Öffnungsschritte sehen wir ab dieser Woche in den Daten. Die Fallzahlen und die Abwasserdaten geben erste Hinweise, dass eine Trendwende hin zu steigenden Zahlen erfolgt.

Für Ende März sind weitere Lockerungen angedacht. Können wir dann auch gleich die Isolation für Infizierte aufheben, wie es etwa Grossbritannien vormacht?
Das ist am Ende ein politischer Entscheid. Für mich ist aber ganz klar: Wer Symptome hat, selbst leichte Symptome, sollte zu Hause bleiben – und zwar unabhängig vom politischen Entscheid über die Isolation.

Neben der Isolation steht auch die Maskenpflicht im ÖV zur Debatte, sie dürfte Ende März fallen. Können wir uns diese weiteren Öffnungsschritte leisten?
Neben den Öffnungsschritten beeinflusst vor allem die Jahreszeit die Ausbreitung. Ich gehe davon aus, dass es im Frühling und Sommer leichter wird. Zumindest mit der aktuellen Omikron-Variante.

Soll das heissen, die nächste Variante steht schon in den Startlöchern?
Wir beobachten momentan eine Omikron-Schwestervariante, BA.2. Innerhalb der sinkenden Zahlen haben wir einen Anstieg bei diesem Subtyp. Es sieht aktuell danach aus, dass BA.2 etwas leichter übertragbar ist, aber nicht wesentlich öfter zu schweren Verläufen führt. Wer sich mit der Omikron-Ursprungsvariante BA.1 angesteckt hat, ist vermutlich auch gut gegen BA.2 geschützt. Allerdings könnte die Zahl der Infektionen in den nächsten Tagen und Wochen nochmals steigen.

Andere Länder haben noch deutlich strengere Massnahmen als die Schweiz. Woher kommen diese Unterschiede?
In der Schweiz hatten wir im Vergleich zum Ausland eine sehr starke Omikron-Welle. Dadurch haben wir eine höhere Immunität. Das macht es dem Virus nun schwerer zu zirkulieren – auch wenn die Massnahmen locker sind.

Die «Mrs. R-Wert»

Tanja Stadler ist Mathematikerin und Biostatikerin. In der Pandemie hat sie sich insbesondere mit ihren Berechnungen zum R-Wert einen Namen gemacht. Die ETH Zürich hat sie unlängst zur Professorin für computergestützte Evolution berufen. Die Corona-Taskforce leitet Stadler seit August 2021. Nach Matthias Egger und Martin Ackermann ist sie die erste Frau an der Spitze der Taskforce. Tanja Stadler hat in München (D) und Neuseeland studiert. Sie wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.

Tanja Stadler ist Mathematikerin und Biostatikerin. In der Pandemie hat sie sich insbesondere mit ihren Berechnungen zum R-Wert einen Namen gemacht. Die ETH Zürich hat sie unlängst zur Professorin für computergestützte Evolution berufen. Die Corona-Taskforce leitet Stadler seit August 2021. Nach Matthias Egger und Martin Ackermann ist sie die erste Frau an der Spitze der Taskforce. Tanja Stadler hat in München (D) und Neuseeland studiert. Sie wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.

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Entspannter Sommer, kritischer Herbst

Die letzten zwei Jahre sind wir nach einem entspannten Sommer sehenden Auges in die Herbstwelle geschlittert. Blüht uns das erneut?
Es ist das A und O, dass wir uns vorbereiten. Dazu gehören zwei Aspekte: Einerseits müssen wir wissen, wie hoch die Immunität in der Bevölkerung im Herbst noch ist. Andererseits müssen wir neue Varianten im Blick behalten. Wir sollten also auch jetzt im Frühling und Sommer viele Daten sammeln – immunologisch und genomisch.

Brauchen wir im Herbst eine vierte Impfung?
Das hängt ganz davon ab, wie sich die Immunität entwickelt. Wir sollten daher bei einer Testgruppe anhand von Blutproben die Antikörper und T-Zellen beobachten.

Wagen Sie eine Prognose!
Für gefährdete Personen könnte eine Auffrischung für einen guten Schutz gegen schwere Verläufe wichtig sein. In der breiten Bevölkerung allerdings erwarte ich nicht, dass der Schutz gegen schwere Verläufe bei Geboosterten drastisch abnimmt – sofern es keine neue Variante gibt. Aber wer sich vor einer Infektion schützen will, muss sich wohl ein viertes Mal impfen lassen.

Ist das denn nötig?
Bei der Grippe tun das ja auch viele. Nicht aus Angst vor einem schweren Verlauf oder weil sie mit Risikogruppen zu tun haben. Sondern einfach, weil sie nicht eine Woche lang mit hohem Fieber krank sein wollen. Hinzu kommt die Gefahr von Long Covid. Wir wissen noch wenig über die Langzeitfolgen einer Infektion.

Macht es Sinn, vor einer allfälligen vierten Impfung die Antikörper im Blut zu messen?
Auf individueller Ebene: nein. Solche Tests sind hilfreich, um die Immunität in der Gesamtbevölkerung abzuschätzen. Aber sie lassen keine genaue Angabe zu, wie gut jemand vor einer Infektion oder einem schweren Verlauf geschützt ist.

Wird die Maske nächsten Winter wieder zum Alltag?
Das kann ich mir durchaus vorstellen. Wenn ich in ein Malaria-Gebiet reise, ist ja auch klar, dass ich mich mit einem Moskitonetz schütze. Warum soll ich mich dann nicht mit einer Maske vor dem Coronavirus oder anderen Viren schützen? Ob es allerdings wieder eine Maskenpflicht braucht, hängt stark von der Viruszirkulation ab.

Impfobligatorium

In ihrem Lagebericht bringt die Taskforce auch ein Impfobligatorium aufs Tapet. Warum müssen wir das nun, wo die Fallzahlen stark sinken, überhaupt diskutieren?
Es könnte ja sein, dass neue Varianten entstehen, die vermehrt schwere Verläufe auslösen. Dann haben wir drei Handlungsoptionen. Erstens, wir erhöhen die Durchimpfung mithilfe eines Obligatoriums. Zweitens, wir schliessen gewisse Lebensbereiche, um die Viruszirkulation zu bremsen. Oder drittens, wir nehmen eine Überlastung der Spitäler inklusive Triage in Kauf.

Und da ist ein Impfobligatorium in Ihren Augen die beste Lösung?
Das ist überhaupt nicht unsere Aussage. Impfobligatorium, Schliessungen und Triage sind allesamt einschneidend und führen zu schwierigen ethischen Fragen. Umso wichtiger ist es, dass wir heute die Diskussion darüber starten, wo wir als Gesellschaft die Prioritäten setzen.

Falls ein Impfobligatorium im Herbst auf den Tisch kommt, sollte es für alle gelten oder nur für einzelne Gruppen, zum Beispiel Ältere oder Angestellte im Gesundheitswesen?
Das kommt ganz darauf an, welche Variante dann zirkuliert und wo die Risiken liegen. Wenn nur eine bestimmte Gruppe gefährdet ist, reicht es, diese zu impfen. Letztlich ist es eine politische Frage.

Macht man mit der Debatte über ein Impfobligatorium nicht auf Vorrat Panik in einer Zeit, in der die Fallzahlen doch sinken?
Auch wir freuen uns natürlich über die gute Entwicklung! Aber damit wir im Herbst nicht ein drittes Mal böse überrascht werden, müssen wir uns jetzt vorbereiten. Das hat nichts mit Panik zu tun, sondern mit Weitsicht.

Fehleinschätzungen der Taskforce

Die «NZZ» hat Sie letztens als «Die Alarmistin» bezeichnet. Freuen Sie sich, wenn das Mandat der Taskforce Ende März endet und Sie nicht mehr im Rampenlicht stehen?
Klar, als Forschende mussten wir lernen, mit dieser neuen Rolle in der Öffentlichkeit umzugehen. Ich habe mich über die positiven Dankeszuschriften gefreut und habe daraus Kraft geschöpft.

Mindestens zweimal lag die Taskforce mit ihren Prognosen weit daneben. Wie erklären Sie sich die Fehler?
Achtung, wir machen keine Prognosen, sondern Modellrechnungen. Im April 2021 lagen wir daneben, weil wir die Saisonalität unterschätzt haben. Der Frühling hat uns stärker geholfen als angenommen. Im Januar 2022 lagen wir richtig beim Anstieg der Fallzahlen – nicht aber beim Anstieg der Hospitalisierungen. Wir mussten uns hier auf Daten aus dem Ausland verlassen, die am Ende für die Schweiz nicht zutreffend waren.

Ursprünglich sollte die Taskforce bis Mai bestehen, nun löst sie sich schon im März auf. Warum?
Wir wurden als Krisenstruktur geschaffen. Die akute Krise geht zu Ende. Das heisst auch, dass wir wieder normale, langfristige Strukturen brauchen. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Politik bleibt aber wichtig, auch über die Corona-Pandemie hinaus!

Sie sind gerade vonseiten der Wirtschaft massiv unter Beschuss geraten. Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler zum Beispiel hat mehrfach gegen Sie ausgeteilt. Treffen Sie sich nun mit ihm auf ein Versöhnungsbier?
Es wäre tatsächlich spannend, einmal mit ihm zu diskutieren – und zwar ohne mediale Aufmerksamkeit!

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