Moritz Leuenberger über die Verluste der SP, Europa und «Juso-Romantik»
«Heute wäre ich vielleicht ein Grüner»

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger führt die Verluste seiner Partei auf ihren Europakurs und «Juso-Romantik» zurück. Und sagt, was die politische Konkurrenz besser macht.
Publiziert: 02.04.2022 um 17:03 Uhr
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Aktualisiert: 04.04.2022 um 10:10 Uhr
Interview: Reza Rafi

Herr Leuenberger, machen Sie sich Sorgen um Ihre Partei?
Moritz Leuenberger: Gemessen am Weltgeschehen finde ich die Verschiebung von einigen Prozenten in Kantonsparlamenten von ziemlich geringer Bedeutung. Trotzdem machen mich die letzten Wahlresultate nicht gerade glücklich. Aber ich muss doch relativieren: Alle Bundesratsparteien haben Mühe, nicht nur die SP.

Na ja, die SP erlitt die grössten Verluste.
Für die Parlamente trifft das zu. Aber für die Exekutiven sehe ich das Gegenteil, zum Beispiel in der Stadt Zürich. Und ich bin überzeugt, dass Simonetta Sommaruga und Alain Berset bei einer Volkswahl weit obenaus schwingen würden. Die Kompetenz und Glaubwürdigkeit der SP in den Regierungen steht ausser Frage. Dazu kommen die Erfolge in Abstimmungen über Referenden und Initiativen.

Düster sieht es in den Parlamenten aus.
Die SP wird seit jeher von zwei Brennpunkten geprägt: von Grundüberzeugungen und von der Umsetzung in der Regierung – politische Gesinnung und politische Verantwortung. Von vielen wird die SP in letzter Zeit als etwas gar kompromisslos wahrgenommen. Ihre Haltung zum Rahmenabkommen etwa gilt als Mitursache, dass es begraben wurde. Ein Hauch von Juso-Romantik umflort die Partei.

«Ich kenne Bekannte, die deswegen zu den Grünliberalen umgeschwenkt sind»: Moritz Leuenberger zum Europakurs der SP.
Foto: Thomas Meier
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Hat die SP also ein Wahrnehmungsproblem?
Einfach nach dem Wind soll sie sich ja nicht richten. Grundüberzeugungen sind auch eine Stärke. Als Exekutivmitglied war ich zum Teil froh darum. Ich musste beim Bankgeheimnis Entscheide mittragen, die ich vor mir selber kaum verantworten konnte, und so war ich froh, dass meine Partei klar sagte, was unsere Überzeugung war.

Sie haben das Rahmenabkommen mit der EU erwähnt. Die SP stellte sich in die Reihe der Totengräber.
Das hat sich gerächt. Ich sah, wie viele enttäuscht waren. Ich habe Bekannte, die deswegen zu den Grünliberalen umgeschwenkt sind. Auch ich selbst war enttäuscht. Ich hatte das Verkehrsabkommen mit der EU ausgehandelt. Ohne dieses hätte es gar keine bilateralen Verträge gegeben. Die Aufkündigung des Rahmenvertrags war mir auch deswegen unverständlich. Da trägt die SP, in erster Linie ihr Gewerkschaftsflügel, eine Mitverantwortung. Jetzt gehen halt einige Wähler zur GLP, die sich zur EU klar positioniert.

Und jetzt unterstützt die SP das Referendum gegen den Ausbau des EU-Grenzschutzes Frontex.
Dieses Referendum ist ein typischer Kantengang zwischen Grundsatzüberzeugung und Verantwortung: Es ist klar, dass bei Frontex der Schutz der Migrantinnen und der Menschenrechte hergestellt werden muss, und ich kann verstehen, dass mit einem Referendum die Gelegenheit ergriffen wird, das zu fordern. Aber die Vorlage betrifft gar nicht direkt solche Bestimmungen. Deswegen also das Schengenabkommen und die Beziehungen zur EU zu gefährden, ist heikel. Vor allem, wenn die Rechte es auch noch unterstützen will.

Würden Sie heute als 20-Jähriger wieder der Sozialdemokratie beitreten?
Ich weiss es nicht, weil ich nicht 20, sondern 75 bin. Ich ging zur SP, weil ich sie verändern wollte. Dieser Veränderungswille, diese Aufbruchsstimmung sieht die heutige Jugend woanders. Die Grünen sind emotional näher an ihren Themen als die SP.

Wären Sie heute Klimajugendlicher?
Vielleicht ein Grüner, ja. Aber kein Demonstrant, der für seine Sache auf der Strasse den Verkehr aufhält. Schon damals wollte ich etwas verändern und nicht nur protestieren. Aber auch ich bin Trends gefolgt, so wie heute die junge Generation.

Was sagen Sie zu Ihrer Parteispitze Mattea Meyer und Cédric Wermuth?
Ich höre hin und wieder Interviews und finde die gut. Nur ist es nicht einfach das Präsidium, das eine Partei prägt und für alles verantwortlich ist, schon gar nicht bei der SP. Viele Wählerinnen und Wähler nehmen aber vor allem Themen wie Genderfragen wahr, sprachpolizeiliche Vorschriften oder die Idee, koloniale Vergangenheit mit der Übertünchung von Häuserfassaden lösen zu können. Dafür ist zwar nicht die SP allein verantwortlich, aber es wird ihr zugeordnet.

Auch für solche Fragen muss doch Ihre Partei hinstehen.
Für die Gleichberechtigung steht sie seit 100 Jahren ein. Aber Genderfragen sind zur Ideologie erstarrt. Die Kernthemen der SP sind die soziale Frage, die Mieten, die Bodenpreise, die Löhne, insbesondere die immer noch geringeren der Frauen. Soziale Konflikte werden sich zuspitzen, gerade wegen der globalen Veränderungen. Dort hat die Partei eine Aufgabe. Hauptsache, sie steht dafür ein. Ob sie dann in den Kantonen 22 oder 24 Prozent Wähleranteil hat, ist ja wirklich nicht so wahnsinnig wichtig.

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