So knapp entkam Brienz der Katastrophe
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Drohnen-Aufnahmen zeigen:So knapp entkam Brienz der Katastrophe

Ein Bergdorf atmet auf – Brienzerin Marcellina Alig (46) wünscht sich nur eines
«Ich möchte mein altes Leben zurück»

Riesige Massen an Geröll lösten sich letzte Nacht in Brienz GR: Der Bröckelberg rutschte ab – und alle sind erleichtert. Die Geologen seien immer vom schlimmsten Fall ausgegangen – nun sei der beste Fall eingetreten: Doch die Geschichte ist noch nicht ausgestanden!
Publiziert: 16.06.2023 um 23:10 Uhr

Auf diesen Moment wartete seit Wochen die ganze Schweiz – und in der Nacht auf Freitag rutschte dann der Bröckelberg in Brienz GR schlussendlich ins Dorf. «Es war etwa 10 Uhr abends und eigentlich wollte ich ins Bett», meint Daniel Albertin (52), der Gemeindepräsident von Albula GR am Freitagnachmittag danach zu Blick. Die Müdigkeit ist ihm anzusehen: «Ich war bis jetzt noch immer nicht im Bett.»

Trotzdem steht dem Bündner an der spontan einberufenen Medienkonferenz in der Turnhalle des Schulhauses in Tiefencastel GR ein Lachen ins Gesicht geschrieben: «Die Erleichterung ist gross, dass trotz dieses Ausmasses des Schuttstroms keine Schäden am Dorf entstanden sind! Wir haben bereits vor fünf Wochen die Bevölkerung evakuiert, und die Wartezeit war lang, bis der Fels letzte Nacht endlich abgerutscht ist.»

«Brienz ist nach dem Felssturz ein anderes Dorf»
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Gemeindepräsident Albertin:«Brienz ist nach dem Felssturz ein anderes Dorf»

Schuttstrom mit riesigem Ausmass

Mitten in der Absturznacht musste die Polizei noch zusätzliche drei Familien aus zwei Häusern im angrenzenden Dorf Surava GR evakuieren. Ausserdem seien fünf Kühe in Sicherheit gebracht worden. Während der Nacht hielt der Gemeindeführungsstab zweimal eine Sitzung ab. Nach ersten Schätzungen der Geologen kamen etwa 1,5 Millionen Kubikmeter Gestein herunter.

Die Brienzerin Marcellina Alig (46) hofft, dass alles bald ein Ende hat: «Langsam wäre es mir auch egal, wenn mein Haus zerstört werden würde. Ich möchte nur endlich Gewissheit haben.»
Foto: Luisa Ita
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Ein Gedankenspiel zeigt auf, wie mächtig der Schuttstrom war: Um die ganze «Insel» aufnehmen zu können, würden 26'648 Güterwagons der SBB benötigt. Reiht man diese aneinander, entspräche dies 374,1 Kilometer Länge – oder der Strecke von Chur bis nach Nyon VD.

Die Verantwortlichen hätten einen Freudensprung gemacht, als sie bei Anbruch des Tages gesehen hätten, dass die Massen das Dorf nicht beschädigt hatten. Von einer Rückkehr ins Dorf ist jedoch trotzdem noch nicht die Rede. «Es wird mindestens ein paar Tage dauern, bis wir alle Werte überprüft haben. Frühestens dann können wir abschätzen, wann die Menschen zurück in ihre Häuser dürfen», erklärt der Leiter des Frühwarndienstes, Stefan Schneider (50). Zurzeit sei der Berg allerdings «erstaunlich ruhig». Auch gab es keine grösseren Nachbrüche, sagt der Experte weiter.

«Man kann von einem Best-Case-Szenario sprechen»
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Geologe Stefan Schneider:«Man kann von einem Best-Case-Szenario sprechen»

«Die bröckelnden Steine klingen wie ein rauschender Bach»

Für mehrere Stunden galt im Gebiet die Phase Blau, davor und danach ist es Rot. Blau bedeutet, dass die Strasse zwischen Tiefencastel und Surava gesperrt wurde: Für Pendlerinnen und Pendler sorgte das für Chaos, denn statt weniger Minuten, dauerte die Fahrt vom einen ins andere Dorf nun knapp zwei Stunden und führte unter anderem über den Julier-Pass. Ab Samstag soll der öffentliche Verkehr wieder regulär zirkulieren.

Unweit der Evakuierungszone Blau lebt Sonja (44) mit ihrem Sohn Tiziano (9). Sonja wollte eigentlich ihr Zuhause verlassen, sobald die Phase «Blau» ausgerufen wurde. Da dies jedoch mitten in der Nacht geschah, ist die Familie daheim geblieben. Der Schuttstrom habe Mutter und Sohn einen mächtigen Schrecken eingejagt, aber die beiden sind froh, dass jetzt endlich was heruntergekommen ist: «Die bröckelnden Steine klingen wie ein rauschender Bach.»

Tiziano (9) fürchtet wegen Bröckelberg um Geburi-Party

Sonja macht sich viele Gedanken, wie sie im Gespräch mit Blick sagt: «Ich will nicht hier weg, hier bin ich daheim, das ist mein Paradies.» Aber es fühle sich komisch an, sogar ihre Katzen hätten sich seltsam verhalten. «Sie sind heute die ganze Nacht drin geblieben, das machen sie sonst nie.»

Tiziano hingegen fürchtet um sein Geburtstagsfest, denn er wird am Sonntag zehn Jahre alt. Zum Glück konnten Oma und Opa sein Geschenk bereits vor der Erhöhung der Gefahrenstufe bei ihm deponieren. Nun hofft der Bub, dass der Berg stabil bleibt und die Stufe nicht wieder hochgeschraubt wird.

«Möchte mein altes Leben zurück»

Auch die Brienzerin Marcellina Alig (46) hofft, dass alles bald ein Ende hat: «Langsam wäre es mir auch egal, wenn mein Haus zerstört werden würde. Ich möchte nur endlich Gewissheit haben.» Auch sie wurde vor rund fünf Wochen evakuiert und lebt jetzt in einem Nachbarort: Man habe ihr dort eine Wohnung zur Verfügung gestellt.

«Man hat schon gesehen, dass letzte Nacht ziemlich etwas runter ist», sagt die Brienzerin zu Blick. Sie hat jedoch einen grossen Wunsch: «Ich wäre froh, wenn ich mein altes Leben zurückbekäme. So, wie es war.»


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