«Ich habe ständig Schmerzen»
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Sie hat eine seltene Krankheit:«Ich habe ständig Schmerzen»

Selina B. (24) leidet an einer seltenen Krankheit – und daran, dass man sie nicht ernst nimmt
«Um jeden Rappen von der Krankenkasse muss ich kämpfen»

Ein seltenes Leiden bereitet Selina B. (24) nebst grossen Schmerzen auch Kopfzerbrechen sowie haufenweise Papierkrieg. Für jede Unterstützung muss sie hart kämpfen. Die junge Frau fühlt sich von den Behörden hängen gelassen. Eine sehr belastende Situation.
Publiziert: 08.08.2022 um 10:54 Uhr
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Aktualisiert: 09.08.2022 um 08:55 Uhr
Luisa Ita

Selina B.* (24) sitzt niedergeschlagen daheim am Esstisch und blättert durch Arztberichte. Obwohl man es ihr nicht ansieht, hat die junge Frau starke Schmerzen. Sie leidet laut den Experten des Berner Inselspitals an einer seltenen Krankheit: Eine leichte Veränderung der Handwurzelreihe – ähnlich der Madelung-Deformität – sowie eine Pronationshemmung wurden ihr am rechten Arm diagnostiziert. Auch links hat sie Beschwerden, doch da fehlt eine klare Diagnose.

«Meine Handgelenke sind blockiert», sagt Selina B. «Ich kann sie nicht nach innen drehen und habe ständige Schmerzen. Auch meine Schultern kann ich nur beschränkt bewegen.» Dabei handle es sich vermutlich um ein Geburtsgebrechen. «Ich kam als Zwilling zu früh auf die Welt», erzählt sie. «Mein Bruder ist leider kurze Zeit später verstorben.»

Laut dem Inselspital ist eine Handfehlbildung dieser Art «sehr selten». Sie trete häufiger bei Mädchen auf und sei meistens beidseitig. Die Symptome: chronische Handgelenksschmerzen im Alltag und Bewegungseinschränkungen.

Selina B. kann laut eigener Aussage ihr Handgelenk nicht weiter drehen, als in die auf dem Foto ersichtliche Position.
Foto: Luisa Ita
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Seltene Fehlbildung wurde erst spät diagnostiziert

Schon als Kind habe sie grosse Schmerzen gehabt beim Schreiben, daran erinnere sie sich gut, erzählt Selina B.: «Ich bin jeden Abend weinend heimgekommen. Und der Hausarzt meinte bloss, ich hätte das vorgetäuscht, weil ich nicht in die Schule gehen wollte.» Das macht die Sozialhilfeempfängerin bis heute fassungslos.

Doch laut der Helpline für seltene Krankheiten des Universitäts-Kinderspitals in Zürich ist sie damit nicht allein: «Der Weg zur richtigen Diagnose einer seltenen Krankheit ist oft lang und beschwerlich und dauert oft Jahre bis Jahrzehnte.» Mit 16 Jahren wollte Selina B. ganz genau wissen, woran sie leidet. Sie lässt nicht locker, bis Ärzte bei ihr schliesslich die seltene Fehlbildung diagnostizieren.

Damit eine Krankheit als selten gilt, betrifft sie laut der Anlaufstelle des Zentrums für seltene Krankheiten in Zürich weniger als eine Person auf 2000 Einwohner. Die angeborene Fehlbildung der Westschweizerin falle in eben diese Kategorie. Aber: «Leider können wir keine Aussage über bekannte Fälle abgeben, da in der Schweiz keine entsprechende Datenbank verfügbar ist, um diese Fälle zu verifizieren.»

Niemand weiss, was Selina B. helfen könnte

Wegen der Seltenheit ihres Leidens hat Selina B. nun schon seit Jahren Probleme. Da auf der einen Körperseite zwei aneinander stehende Knochen die Ursache für die Schmerzen sein könnten, würde möglicherweise eine Operation helfen – doch Garantie dafür gebe es keine. Ansonsten scheint es keine Therapiemöglichkeit zu geben.

«Für 95 Prozent der Fälle bleibt einzig die Symptomtherapie als Behandlungsform», heisst es auch von der Info-Stelle. «Forschung ist und bleibt daher für Betroffene die grösste Hoffnung. Die Entwicklung neuer Medikamente gegen seltene Krankheiten ist angesichts der geringen Nachfrage und Absatzchancen leider meist nicht sehr interessant für die Pharmaindustrie.»

«Es ist zum Verzweifeln!»

Doch nicht nur die fehlende Behandlungsmöglichkeiten, sondern auch fehlende berufliche Perspektiven machen der jungen Frau schwer zu schaffen. In die Berufswelt einzusteigen, daran sei derzeit nicht zu denken – zu gross die Schmerzen: «Ich würde wirklich gerne arbeiten, auch wenn manche Menschen mir das Gegenteil unterstellen. Es ist zum Verzweifeln!»

Schon die einfachsten Dinge wie beispielsweise Tastaturschreiben, Haare föhnen oder Zähne putzen würden grosse Schmerzen bedeuten, erklärt B.

Der Kampf mit den Behörden

Ohne regelmässige Physiotherapie seien diese fast nicht auszuhalten, jedoch müsse sie immer kämpfen, damit ihr diese bezahlt werde: «Jedes Mal habe ich Diskussionen mit der Krankenkasse CSS.» Die Stunden, die sie für solche Telefonate und Briefwechsel aufwende, könne sie kaum beziffern.

Die betroffene CSS schreibt in einer schriftlichen Stellungnahme zu dem Vorwurf, dass sich der Kontakt «in einem üblichen Rahmen» bewege. Und: «Wir können bestätigen, dass wir bis anhin sämtliche Pflichtleistungen diskussionslos übernommen haben. Einzig die Leistungen der Physiotherapie werden wir voraussichtlich zeitlich befristet übernehmen, weil uns für eine Fortzahlung die nötigen detaillierten Unterlagen fehlen.»

Ein steiniger Weg

Auf eine Invalidenrente hoffe B. seit Jahren vergebens: «Da meine Krankheit so selten ist, weiss halt einfach niemand, wie man damit umgehen soll.» Sie habe das Gefühl, dass eine Entscheidung hinausgezögert werde.

Dass Patientinnen mit einer seltenen Erkrankung oftmals einen steinigen Weg zu beschreiten hätten, bestätigt wiederum die Helpline für seltene Krankheiten: «Häufig sind Kostenübernahmen der Versicherungen und IV unklar, schulische und berufliche Integration sind erschwert, und es fehlen psychosoziale Unterstützungsangebote.» Dazu komme ausserdem, dass «spezifische Medikamente oft nicht anerkannt und nicht über die Grundversicherung abgedeckt sind.»

Kräftezehrend und belastend

Für Selina B. ist die aktuelle Situation fast nicht zu ertragen. «Es ist extrem mühsam und belastend. Viel Kraft für diesen ständigen Kampf habe ich nicht mehr.»

* Name geändert

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