Bund setzt auf Moscheen, Fussballklubs, Turn- und Schützenvereine
Letzte Hoffnung für die Impfoffensive

Eine Million Menschen will der Bundesrat mit seiner Anti-Covid-Offensive zur Impfung bewegen. Die Umsetzung liegt jedoch bei den Kantonen. Und die sind alles andere als begeistert.
Publiziert: 17.10.2021 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2021 um 11:36 Uhr
Sven Zaugg

Wenn es beim Impfen nicht vorwärtsgeht, drohen der Schweiz weitere Corona-Tote. Gemäss Modellrechnungen des Europäischen Zentrums für Seuchenprävention und Kontrolle sind bei einer Durchimpfung von lediglich 60 Prozent – der Quote, um die sich die Schweiz derzeit bewegt – Hospitalisationen in einer Höhe zu erwarten, die den Rekordstand vom Winter 2020/21 überschreiten.

Um ein solches Fiasko abzuwenden, wechselte der Bundesrat diese Woche in den Alarmmodus. Die angekündigte Impfoffensive, so eine Person aus dem Umfeld der Landesregierung, «ist der letzte Schuss – und der muss sitzen».

Tausende Tote vor einem Jahr

Zur Erinnerung: Bei der zweiten Infektionswelle, die vor rund einem Jahr durch die Schweiz rollte, starben fast 8000 Menschen am Coronavirus. Die Spitäler waren am Limit, in den Krematorien stapelten sich die Särge. Erst durch drastische Einschränkungen des öffentlichen Lebens gelang es ab Mitte Dezember, die Infektionsraten wieder sinken zu lassen.

Wenn es beim Impfen nicht vorwärtsgeht, drohen der Schweiz weitere Corona-Tote. Bundesrat Alain Berset lanciert mit der Impfoffensive den letzten Schuss. Scheitert dieser, droht ein Fiasko.
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Heute sind mehr als 90 Prozent der hospitalisierten Corona-Patienten ungeimpft, dennoch verwandelte sich der Impfschnellzug nach den Sommerferien zur Bummelbahn.

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Nun soll es die viel diskutierte Impfoffensive richten – und die Schweiz vor dem Schlimmsten bewahren. An Geld wird es nicht fehlen: Der Bundesrat hat am Mittwoch ein Budget in Höhe von 100 Millionen Franken dafür gesprochen. Auch das Ziel ist hochgegriffen: Damit die immer noch geltenden Schutzmassnahmen aufgehoben werden können, soll die Impfrate bei den über 65-Jährigen auf etwa 93 Prozent und bei den 18- bis 65-Jährigen auf 80 Prozent zunehmen.

100 Millionen als Impf-Kampagnen-Booster
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Keine Gutscheine:Berset präsentiert den Fahrplan der Impfoffensive

Eine Million zusätzlich Geimpfte nötig

Die ambitionierte Vorgabe lässt sich konkret beziffern: In den kommenden Wochen müssen fast eine Million Menschen dazu gebracht werden, sich impfen zu lassen. Erst dann ist für den Bundesrat eine Rückkehr zur Normalität denkbar.

Eigentliches Kernstück der Offensive ist eine Impfwoche, die zwischen dem 8. und 14. November dezentral in der ganzen Schweiz anberaumt werden soll. Der Bundesrat erhofft sich davon eine Grossmobilisierung der Landbevölkerung. Für die konkreten Projekte indes sind die einzelnen Kantone verantwortlich. Bis Dienstag haben sie Zeit, dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) Projekte zu präsentieren. Tags darauf sollen in einem Workshop Nägel mit Köpfen gemacht werden – bis Mittwochabend soll ein erstes Konzept für die nationale Spritz-Tour stehen.

Vereine im Vordergrund

Recherchen von SonntagsBlick ergaben: Im Zentrum der Impfwoche sollen ländliche Vereine stehen. Die Impfbotschaft soll über Fussball- und Hockeyklubs, Turn- und Schützenvereine zu den Menschen gebracht werden. Denkbar ist, dass eine Fachperson vor dem Training einen Vortrag hält – im Idealfall kann aber auch ein Trainer seinen Schützlingen die Vakzination ans Herz legen.

Ebenfalls im Vordergrund stehen Kulturvereine und Moscheen. Denn wie bei den jungen Erwachsenen liegt die Impfquote auch bei Migranten bedenklich tief. Deshalb sollen sie noch gezielter angesprochen werden als bisher. Ein Beamter des Kantons Aargau fragte am Freitag beim BAG an, ob diesbezügliche Massnahmen finanziert würden. Diese Recherche von SonntagsBlick bestätigte Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati auf Anfrage. Ziel wäre es, über die Moscheen im Aargau sowie einzelne Würdenträger einen Draht zur muslimischen Bevölkerung zu finden. Dabei könnte das Geld aus Bern beispielsweise für Übersetzungen verwendet werden. Das Vorbild für den Aargau ist Schaffhausen: Dort konnten sich die Gläubigen in einer Moschee bereits direkt nach dem Freitagsgebet für eine Impfung entscheiden.

Kantone kritisch

Festzuhalten bleibt aber: Der Funken aus Bern ist bislang nicht auf die Kantone übergesprungen. Das zeigt eine Umfrage von SonntagsBlick bei allen 26 Ständen. Das Impfziel des Bundesrates sei nicht realistisch, tönt es beispielsweise aus der Westschweiz. Auch in den bevölkerungsstärksten Kantonen Bern und Zürich runzeln die politisch Verantwortlichen derzeit noch die Stirn.

Unklar ist überdies in vielen Kantonen, wie und von wem das medizinische Personal für die geforderte Impfberatung rekrutiert werden soll. Der eigene Personaletat sei ausgeschöpft, heisst es allerorten.

Bund zahlt, Kantone organisieren

Der Bund sagt: «Wir zahlen, ihr organisiert.» Offen ist allerdings, wann die versprochenen Millionen für den letzten Schuss an die Kantone überwiesen werden. Geht es nach dem Bund, ist damit erst im nächsten Jahr zu rechnen. Geht es nach den Kantonen, soll der Aufwand für die Offensive noch im laufenden Jahr vergütet werden.

Die Eidgenossenschaft improvisiert in einem bislang unbekannten Ausmass. Vieles, was im Augenblick verfügt wird oder geschieht, wirkt wie eine Verzweiflungstat. Nichts tun als Alternative klingt jedoch ungleich schlimmer: endlose Einschränkungen im Alltag, überfüllte Spitäler und noch viele zusätzliche Tote. Das kann erst recht niemand wollen.

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