«Ich würde so gerne sehen, wie er jetzt mit 10 Jahren aussieht»
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Eltern von Ilias (†7):«Würde gerne sehen, wie er jetzt mit 10 Jahren aussieht»

Ilias (†7) wurde vor drei Jahren auf dem Schulweg in Basel erstochen
Seine Eltern leben noch heute in Angst um die Kinder

Als der kleine Ilias (†7) vor drei Jahren in Basel von einer Rentnerin mit einem Messer getötet wurde, ging eine Welle des Entsetzens durchs Land. Die Eltern des Buben mussten lernen, mit diesem schrecklichen Verlust zu leben. Blick hat die Familie besucht.
Publiziert: 28.03.2022 um 00:52 Uhr
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Aktualisiert: 29.03.2022 um 11:30 Uhr
Michael Sahli

Familie Mahmuti aus Basel hat es irgendwie geschafft, zu überleben. Ihr Überlebenskampf begann vor drei Jahren, als Sohn Ilias (†7) starb. Der Bub wurde auf dem Schulweg von einer wahnhaften Rentnerin (78) mit einem Messer getötet. Der Fall sorgte über die Landesgrenzen hinaus für Entsetzen. Seither ist für die Eltern Samire (28) und Valon (35) nichts mehr wie vorher. Blick hat die Familie in ihrem neuen Zuhause in Basel getroffen.

Das Gespräch findet im Innenhof der Wohnsiedlung statt, die älteren Kinder Inas (fast 2) und Anuar (5) spielen auf dem Spielplatz. Der Jüngste, Rejan (8 Monate), ist bei der Mutter sicher im Arm.

Trotz Umzug und drei Jahren, die seit der Tat vergangen sind: Ilias und der Mord sind immer da, immer irgendwo im Hinterkopf. «Man wird überall daran erinnert. Wir wohnen ja noch im gleichen Quartier, überall sind Erinnerungen», sagt Vater Valon. Der fünfjährige Anuar erinnert sich lebhaft an seinen grossen Bruder, erzählt die Mutter. «Immer wenn es klingelte, dachte er, Ilias käme. Aber Ilias kam nie. Er kommt nie mehr.» Über Ilias zu sprechen, ohne dass die Tränen kommen, ist für Samire auch Jahre nach der Tat fast unmöglich.

Ilias (†7) wurde am 21. März 2019 in Basel auf dem Schulweg erstochen.
Foto: Zvg
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Wie erklärt man einem Fünfjährigen einen Messermord?

Das Ehepaar wollte eigentlich mit dem kleinen Anuar noch nicht über den Mord an seinem Bruder sprechen. Das erwies sich aber als unmöglich: «Im Quartier sprechen die Kinder natürlich darüber, und das sehr direkt», so Samire. Der Fünfjährige selber sagt: «Ilias ist im Himmel», und zeigt nach oben. Er versteht: Sein grosser Bruder ist weg.

Nach der Tat fiel die Familie psychisch in ein tiefes Loch. Und noch heute müssen die Eheleute immer darauf achten, zuversichtlich zu bleiben. «Wir fangen uns immer wieder gegenseitig auf. Sagen dem anderen: Geh mal raus. Wir dürfen nicht zurückfallen, auch für die Kinder», so Valon.

Ein Gedanke dominiert die Eltern, seit Ilias tot ist: der Wunsch nach Sicherheit. Es ist immer eine Angst um die Kinder da. Die Siedlung, in der die Familie wohnt, hat einen Innenhof mit Kindergarten und Spielplatz. «Hier können die Kinder spielen, und ich habe sie immer in Sichtweite. Diese Kontrolle brauche ich.» Ob sie es schafft, die Kinder jemals wieder alleine nach draussen zu lassen? Sie wisse, dass sie das irgendwann müsse, sagt Samire. «Aber jetzt noch nicht. Ich werde für immer ein schlechtes Gefühl haben.»

Ilias ins Familienfoto montiert

Es ist eine ständige Gratwanderung: Ilias soll seinen Platz in der Familie haben, aber ohne, dass jeder Tag von Trauer überdeckt wird. «Viele von seinen Sachen haben wir verschenkt oder gespendet», sagt der Papa. «Ansonsten war immer die Versuchung da: Noch einmal an seinen Kleidern zu riechen, in schöne Erinnerungen abzudriften. Das ist nicht gut.»

Auf manchen neuen Familienfotos haben die Eltern Ilias hineinmontiert: «Er gehört zu uns dazu. Das soll sich auch im Familienalbum zeigen.» Samire hat sogar Kontakt mit der Polizei aufgenommen, um zu fragen, ob die Beamten Ilias auf den Fotos mit Polizei-Software älter erscheinen lassen können. Vergeblich. «Ich würde nur zu gern sehen, wie er heute aussehen würde. Er wäre jetzt zehn Jahre alt, schon ein grosser Bub», sagt Samire und lächelt.

Mahmutis haben es geschafft, den Alltag wieder zu bestreiten. Nur wenige Monate nach der Tat absolvierte Valon seine Ausbildung zum Pfleger – wie ihm das gelungen ist, kann er sich heute nicht mehr richtig erklären. Er arbeitet in einem Altersheim, kann sich mittlerweile auch wieder konzentrieren. Seine Ehefrau Samire spricht, obwohl sie erst als Erwachsene in die Schweiz kam, schon sehr gut Schweizerdeutsch. Sie hat sich in der Nachbarschaft einen grossen Freundeskreis aufgebaut, der ihr Halt gibt.

Hätte der Mord verhindert werden können?

Und Halt braucht die Familie gerade jetzt. Denn am Dienstag kommt der Kindermord noch einmal vor Gericht: Sowohl die Familie Mahmuti als auch die Täterin haben das Urteil weitergezogen. Die Täterin, sie wurde erstinstanzlich zu einer Verwahrung verurteilt, will freigesprochen werden. Der Familie geht es darum, eine angemessene Entschädigung und Genugtuung zu bekommen, wie ihr Anwalt Artan Sadiku erklärt: «Das Gericht hat alle Forderungen abgewiesen, mit der Begründung, die Beschuldigte verfüge über kein Vermögen. Das ist ein Hohn!»

Sadiku begleitet die Familie seit der Tat – und tut das unentgeltlich. «Es geht bei diesem Fall auch um die menschliche Komponente», sagt er. Der Mord an einem unschuldigen Kind habe ihn erschüttert. Erst letzte Woche hat er eine Staatshaftungsklage eingereicht, kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist. Dabei geht es um die Frage: Hätte die brutale Tat von den Behörden verhindert werden können?

Für Familie Mahmuti heisst das alles aber auch: Sie muss der Täterin abermals ins Gesicht schauen, sich ihre wirren Monologe anhören. «Aber wir werden das machen. Es geht uns auch um Gerechtigkeit», sagt Valon Mahmuti. Es wird noch viel Zeit vergehen, bis die Familie irgendwann ihren Frieden mit der Situation findet.

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