Viele Vorschläge – nur höhere Pensen sind bisher tabu
Der Kampf um die Lehrkräfte erreicht das Parlament

Der Mangel an Lehrerinnen und Lehrer erreicht das Parlament. Am Donnerstag werden verschiedene Lösungen diskutiert. Eine bleibt aussen vor.
Publiziert: 02.03.2023 um 00:34 Uhr

Ein halbes Jahr ist es her, dass der Lehrkräftemangel schockwellenartig über die Schweiz fegte. Damit jedes Kind jemanden hat, der vorne Mathematik und Deutsch erklärt, mussten Klassen vergrössert und Aushilfskräfte ohne passendes Diplom eingestellt werden. Eine andere Lösung wird bislang tunlichst vermieden.

Bildungsforscher Stefan Wolter erkennt, dass es in den verschiedenen Kantonen grosse Unterschiede zwischen den Arbeitspensen von Lehrerinnen und Lehrern gibt. Im Bildungsbericht von 2018 wurde er deutlich: «Wenn alle Lehrer 10 Prozent mehr arbeiten würden, wäre das Problem gelöst.» Jetzt konkretisiert er: «Es ging nie darum, von jemandem zu verlangen, 110 statt 100 Prozent zu arbeiten. Stattdessen sollen jene, die 60 Prozent arbeiten, nun 70 Prozent vor der Klasse stehen.»

Höhere Pensen hätten pädagogische Vorteile: «Kinder brauchen eine kontinuierliche Bezugsperson. In der Realität haben sie oftmals zehn verschiedenen Lehrpersonen.» Das führt zu absurden Situationen: «Ich kenne Stundenpläne, wo die Kinder an einem Tag vier Stunden Musik und vier Stunden Sport haben. An einem anderen Tag dann nur die kopflastigen Fächer wie Mathe oder Sprachen.»

Damit eine Lehrerin vor der Schulklasse sitzt, braucht es grosse Anstrengungen.
Foto: imago/photothek
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Grosse kantonale Unterschiede

Und tatsächlich: Im Kanton Genf müssen Lehrerinnen und Lehrer mindestens 50 Prozent arbeiten. Ein Mediensprecher betont, «dass im Kanton Genf im Gegensatz zu anderen Schweizer Kantonen derzeit kein Lehrermangel im Regelunterricht herrscht».

In anderen Kantonen wird deutlich öfter Teilzeit gearbeitet. Im Kanton Zürich arbeiten 72 Prozent der Lehrkräfte in Teilzeit, im Kanton Waadt sind es rund 70 Prozent und im Kanton Bern etwa 77 Prozent. Spitzenreiter ist der Kanton Aargau – überdurchschnittlich viele arbeiten dort in Teilzeit, rund ein Drittel sogar weniger als 50 Prozent. Der Regierungsrat prüft nun Massnahmen, wie zum Beispiel ein Mindestpensum.

Lehrkräfte reduzieren freiwillig

In der nationalen Politik haben solche Mindestpensen einen schwierigen Stand. «Das Risiko besteht, dass die Lehrpersonen den Job dann ganz verlassen. Ein Vorteil des Lehrerberufs ist, dass man Teilzeit arbeiten kann», sagt Mitte-Nationalrat Simon Stadler (34). «Die Schulen müssen Anreize schaffen und kreativ werden, um die Pensen der Lehrpersonen zu erhöhen.»

SP-Nationalrätin Sandra Locher Benguerel (47) sieht in einem Mindestpensum ebenfalls keine Lösung. «Auch Zürich kennt ein Mindestpensum von 35 Prozent und dort herrscht ein Lehrpersonenmangel», sagt sie. «Zudem haben viele Lehrerinnen und Lehrer freiwillig ihr Pensum reduziert, um den hohen Anforderungen des Berufs gerecht zu werden.» Der Vergleich mit Genf sei schwierig. «In Genf bedeutet ein Vollzeitpensum, dass eine Lehrerin auf der Oberstufe vier Lektionen weniger unterrichten muss als in der Deutschschweiz.»

Eine Pensen-Erhöhung zu fordern sei schwierig, gibt auch Bildungsforscher Wolter zu. «In den Städten kann man eher die Pensen erhöhen. Wenn es auf einer Landschule nur zwei Klassen gibt, die eine Französischlehrerin brauchen, muss man Teilzeit anbieten.» Die Schulleitungen hätten hier aber einen gewissen Spielraum.

Mit Berufsmatura an die PH?

Darum stehen im Parlament am Donnerstag andere Lösungen im Vordergrund: Stadler möchte mit einem Vorstoss erreichen, dass auch Leute mit einer Berufsmatura prüfungsfrei an die pädagogische Hochschule (PH) dürfen. «Die Berufsmatura ist im heutigen Aufnahmeverfahren an die pädagogischen Hochschulen bedeutungslos.»

Wer die Berufsmatura macht, spezialisiert sich auf einen bestimmten Bereich, zum Beispiel Wirtschaft – dafür fehlen ihm dann Fächer wie Physik oder Biologie. Angst, dass die künftigen Lehrerinnen und Lehrer schlechter Bio unterrichten, hat Stadler nicht. «Mein Vorstoss zielt auf die Primarstufe. Diese Fachkompetenzen genügen, um auf dieser Stufe zu unterrichten.»

Stadler ergänzt: «Es gibt zum Teil auch eher schlechte Gymi-Abgänger oder Leute, die an der Universität oder Fachhochschule gescheitert sind, die heute die PH besuchen, die fragt niemand nach den Qualifikationen.»

PH Bern muss Zusatzkurse anbieten

Ein direkter Zugang an die PH über die Berufsmatura müsse sorgfältig geprüft werden, sagt Locher Benguerel. «Der Auftrag zur direkten Gesetzesänderung ist vorschnell, die Konsequenzen müssen sorgfältig geprüft werden.» Sie erinnert daran, dass der Kanton Bern eine solche Lösung bereits kennt. «Jetzt muss die PH Zusatzkurse für angehende Lehrerinnen und Lehrer anbieten.»

Locher Benguerel fordert nun einen Bericht über die Gründe für den Lehrerinnenmangel. «Wir tappen im Dunkeln. Es sind nebst der Demografie verschiedene Gründe, vielleicht sind es die Pensen, vielleicht sind es die Hürden bei der Ausbildung. Es braucht jetzt eine genaue Analyse.» (bro)


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