HSG-Politologe James W. Davis
«Leider erwarte ich einen blutigen Konflikt»

Die Sicherheitsarchitektur des Westens hat im Fall der Ukraine versagt, sagt James W. Davis, Politikwissenschaftler der Universität St. Gallen. Die Nato könne gar nicht aktiv werden – denn es fehlt die Legitimität.
Publiziert: 25.02.2022 um 09:23 Uhr
Interview: Laura Montani und Gianna Blum

Blick: Mitten in Europa ist ein Krieg ausgebrochen. Und der Westen scheint in Schockstarre. Hat man Putin unterschätzt?
James W. Davis: Vielleicht eher falsch eingeschätzt. Dass Putin bereit zu Brutalitäten ist, war immer klar – das hat man in der Vergangenheit auch gesehen. Aber wir haben geglaubt, dass man ihn mit einer Strategie von Drohungen und Anreizen beeinflussen kann, und das war ein Fehler.

Die Nato wird nicht aktiv werden, die Vereinten Nationen wegen der russischen Rolle im Sicherheitsrat sicher auch nicht. Wird der Westen die Ukraine ihrem Schicksal überlassen?
Eine gewisse Hilflosigkeit in den Hauptstädten des Westens ist da. Der US-Präsident Joe Biden hat es richtig gesagt: Wenn Russen und Amerikaner aufeinander schiessen, droht der Weltkrieg – das kann keine Lösung sein. Doch zuschauen und nichts machen ist auch keine Alternative, das erinnert mich an Srebrenica oder Ruanda. Wir müssen machen, was wir können, um die Gewalt zu stoppen.

Zur Person

Der US-Amerikaner James W. Davis (58) ist Experte für Sicherheitspolitik und internationale Beziehungen. Er ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen und leitet das Kompetenzzentrum für Sicherheitswirtschaft und Technologie.

James W. Davis.
zvg

Der US-Amerikaner James W. Davis (58) ist Experte für Sicherheitspolitik und internationale Beziehungen. Er ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen und leitet das Kompetenzzentrum für Sicherheitswirtschaft und Technologie.

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Und was wäre das?
Es ist sicher legitim, den Ukrainern Unterstützung für die eigene Verteidigung zu liefern. Aber um einen Waffenstillstand herbeizuführen, müssen wir Putin beeinflussen. Hier sind die wirtschaftlichen Sanktionen wichtig.

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Foto: keystone-sda.ch
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Stichwort Sanktionen: Was können wirtschaftliche Massnahmen bewirken?
Putin werden sie nicht beeindrucken, er hat Sanktionen des Westens sicher einkalkuliert. Worauf wir aber hoffen können, ist, dass die Leute um Putin herum getroffen werden und Druck ausüben können.

Was ist Putins Ziel?
Ich nehme ihn beim Wort: Er hat mehrmals gesagt, dass das ukrainische Volk als solches Teil des grossrussischen Volk ist. Sein Ziel dürfte sein, Schritt für Schritt, wenn nicht die Sowjetunion, dann zumindest ein altrussisches Reich wiederherzustellen.

Ist es ausgeschlossen, dass die Nato eingreift?
Im Moment ja. Es wäre eine andere Frage, wenn Russland auf Nato-Verbündete schiesst, da denkt man natürlich an die baltischen Staaten. Aber das halte ich für unwahrscheinlich, obwohl Putin extrem allergisch reagiert, wenn ehemalige Teilrepubliken der Sowjetunion sich der Nato anschliessen.

Wie meinen sie das?
Wenn ich jetzt Estland, Lettland oder Litauen wäre, hätte ich schon ein bisschen Angst. Man muss aber sagen, dass alle Nato-Partner bekräftigt haben, dass sie hinter dem Prinzip stehen, dass ein Angriff auf ein Nato-Land ein Angriff auf alle ist. Das dürfte auf Russland abschreckender wirken, als die Situation der Ukraine.

Muss man denn da rückblickend sagen, dass die Nato-Osterweiterung ein Fehler war?
Ich halte diese Diskussion für falsch. Es war die Entscheidung der betreffenden souveränen Länder, der Nato beizutreten. Zudem kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in absehbarer Zeit nicht auf der Agenda stand. Ich glaube, solche Argumente sollen davon ablenken, dass mit Russland ausgerechnet ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen den Frieden Europas bricht.

Die Nato ist einst als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion entstanden. Und jetzt beginnt ausgerechnet Russland einen Krieg, und die Nato kann nichts unternehmen. Braucht es neue Regeln?
Die Nato ist nun einmal eine defensive Allianz. Es fehlt die Legitimation, etwas zu unternehmen, das über die Verteidigung der Mitglieder hinaus geht.

Die Nato kann zwar nicht eingreifen. Aber wie soll sie reagieren?
Die Nato hat jetzt zwei Aufgaben. Einerseits die eigenen, verunsicherten Verbündeten zu beruhigen, andererseits klare Signale Richtung Moskau zu schicken: Bei einem Angriff auf ein Nato-Land wird ganz anders reagiert als im Fall der Ukraine. Beides wird durch ein Vorrücken der Truppen erreicht.

Ganz abgesehen von der Rolle der Nato: Funktioniert die Sicherheitsarchitektur des Westens noch?
Offensichtlich nicht, sonst hätten wir die heutige Situation nicht. Wir müssen Antworten darauf finden, wie wir mit einer autokratischen Regierung umgehen, die nicht bereit ist, sich an die fundamentalen Regeln der Nachkriegsordnung zu halten – und das genug Macht hat, diese infrage zu stellen.

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Wie geht es jetzt weiter, welche Entwicklungen erwarten Sie?
Leider erwarte ich einen ziemlich blutigen Konflikt. Die Russen scheinen zu glauben, dass sie Rache nehmen müssen – und das wegen eines Genozids, den Russland erfunden hat. Auf der andern Seite steht das ukrainische Volk, das inzwischen durchaus eine eigene Identität hat. Wenn diese Seiten aufeinander treffen, dürfte es blutig werden. Unklar ist, was mit der ukrainischen Regierung passiert, ob sie ins Exil gezwungen wird.

Welche Rolle könnte die Schweiz einnehmen – insbesondere via diplomatische Mittel?
Ziel muss zunächst sein, einen Waffenstillstand herbeizuführen. Das wird mittelfristig nicht einfach sein. Sobald das aber möglich ist, gibt es verschiedene Rollen, welche die Schweiz übernehmen kann. Allerdings gehe ich davon aus, dass das weniger im politischen Bereich sein wird als vielmehr in der humanitären Hilfe.









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