Neues Terrain als etwas Gutes
Unbekannte Wege

Ich habe absolut keinen Orientierungssinn. Und ich kann auch keine Karten lesen. Meine Mutter sagte immer, ich solle einfach in die entgegengesetzte Richtung gehen, als ich glaube. Trotzdem verlaufe ich mich ständig. Doch das hat auch Vorteile.
Publiziert: 30.08.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2021 um 12:44 Uhr
Milena Moser

Neulich war ich an einem Sonntag frühmorgens alleine unterwegs. Meine Freundin Theresa, mit der ich normalerweise wandern gehe, war auf Geschäftsreise. Ich hatte mir vorsorglich eine App heruntergeladen und die Karte studiert. Die kleine Stadtwanderung, die ich mir ausgesucht hatte, lag ausserdem in der Nähe des Unispitals. Das Krankenhaus besitzt dort ein recht grosses und gut erschlossenes Grundstück auf einem mit Eukalyptusbäumen bewachsenen Hügel.

Diesen Stadtdschungel hatte ich einmal ganz zufällig während einer von Victors zahlreichen Operationen entdeckt, als ich es im Wartezimmer nicht mehr aushielt, das Gebäude verliess und ziellos und halb blind vor Sorgen die Strasse entlang stolperte. Ich bog um eine Ecke, und plötzlich roch es nach Eukalyptus. Ich betrat eine Art Stadtdschungel. Nach wenigen Schritten schon war ich weit weg. Die Stadt, die Klinik, selbst meine Sorgen schienen weit weg.

Diesmal will ich von der anderen Seite in das Wäldchen eindringen, dort, wo der romantisch benannte Feenweg beginnt, der in einer sanften Schlaufe um den Sutro-Hügel herum führt. Es ist noch früh, die Stadt hüllt sich in dichten Sommernebel. Im Radio laufen die Nachrichten. Afghanistan, Haiti, Klimabericht, Delta und Lambda. Ich könnte auch wieder nach Hause fahren, denke ich. Und mir die Bettdecke über die Ohren zu ziehen. Oder auch bei meiner Lieblingsbäckerei haltmachen und mich mit Trostgebäck eindecken.

Beim Verlassen ausgetretener Wege muss man besonders präsent sein.
Foto: zvg

In der Gegend rund um die Uniklinik kenne ich mich gezwungenermassen recht gut aus. Trotzdem gelingt es mir nicht, den Eingang in den Park zu finden, den ich im Nebel erahne. Schliesslich halte ich in einem Wohngebiet, konsultiere noch einmal meine App und laufe los. Bald habe ich den waldigen Hügel erreicht, doch er ist von einem Zaun umgeben. Aus den Bäumen tropft es, die eine Strassenhälfte glänzt regennass, während die andere trocken bleibt. Denn es ist nicht Regen, sondern der berühmte «heavy fog», der schwere Nebel, der sich über Nacht angesammelt hat und jetzt von den Blättern tropft. Während ich dieses Phänomen beobachte und gleichzeitig nach dem Pfad Ausschau halte, vergesse ich die Weltlage, die Nachrichten, selbst die Tatsache, dass ich noch nicht mal einen Kaffee getrunken habe heute Morgen. Ich bin hier. Ich bin wach.

Und ich erinnere mich an eine Studie, die ich kürzlich gelesen habe, die das Verlassen der ausgetretenen Wege empfiehlt, das Verändern der vertrauten Übungsabfolge, das Abweichen von der Routine. Weil man aufpassen muss, wo man hintritt. Weil man präsent sein muss. Das hat offenbar nicht nur metaphorische, sondern auch ganz konkrete gesundheitliche Vorteile. Irgendwann gebe ich auf, stecke das Handy mit der App, die sich als ebenso trügerisch erweist wie mein eigener Orientierungssinn, in die Tasche. Stattdessen folge ich dem Rat meiner Mutter und gehe einfach in die entgegengesetzte Richtung.

Tatsächlich finde ich dann einen Wanderweg, nicht den, den ich suchte, aber es ist ein Weg. Er ist steil und matschig, ich muss aufpassen, wo ich hintrete. Der Nebel ist dicht, die Bäume hoch, das Licht dämmerig. Es riecht nach Eukalyptus und nasser Erde. In der Ferne rauscht die Autobahn. Mountainbiker und Jogger überholen mich, und ich beneide sie einen Moment lang um ihre Sicherheit. Sie kennen sich hier aus. Das ist ihr Revier. Die unbekannten Wege sind nicht immer einfach zu gehen. Aber sie sind den Aufwand wert. Und ausserdem sind sie die einzigen, die ich finde.


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