Milena Moser über einen kleinen Notfall mit grossen Folgen
Scherben im System

Je nachdem, wo man gerade lebt, kann sich ein banales kleines Missgeschick, wie barfuss in eine Scherbe zu treten, zu einem grösseren Albtraum entwickeln. Am Ende raucht der Kopf mehr, als der Fuss schmerzt.
Publiziert: 09.08.2021 um 10:17 Uhr
Milena Moser

Neulich, als ich Ihre Majestäten, die Katzen, fütterte, trat ich in eine Scherbe. Na, «gschähch nüt Schlimmers!», war mein erster Gedanke. Doch irgendwie hatte sich die fiese Scherbe so tief in meinen Fuss gebohrt, dass Victor meinte, ich müsse wohl zum Arzt.

Zum Arzt – das war leichter gesagt als getan: Meine Hausärztin war in den Ferien. «Ich glaube nicht, dass meine Vertretung sich mit so etwas wohlfühlen würde», schrieb sie zurück; und während ich noch über dieses «wohlfühlen» nachdachte, schickte sie mir den Link zu einer Notfallklinik. Dort konnte ich auch gleich einen Termin für denselben Vormittag reservieren, was mich angenehm überraschte. Victor liess sich nicht davon abhalten, mich dort hinzufahren. Während es mir immer eher peinlich ist, wenn ich mal krank werde oder Hilfe brauche, geniesst er diese seltenen Rollenverkehrungen sichtlich.

Er, der seit zwanzig Jahren unendlich viel Schlimmeres stoisch erträgt, pflegt mich dann mit einer Hingabe, die dem jeweiligen Anlass überhaupt nicht entspricht. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, mich zum Auto zu tragen. Und ich verbot ihm kategorisch, mit mir auszusteigen.
Als Transplantierter ist er durch die Covid-Impfung nur unzureichend geschützt, und eine Notfallklinik ist nicht gerade der ideale Aufenthaltsort für ihn. Diese allerdings hätte keine Gefahr für ihn dargestellt: Nur ein einsamer älterer Sicherheitsbeamter stand vor der geschlossenen Tür und informierte mich, dass die Klinik seit etwa einer Woche nicht mehr existiere. Warum sie immer noch Termine vergibt, konnte er mir allerdings nicht erklären.

Scherben bringen nicht immer Glück: Milena Mosers Mann Victor sucht nach Glassplittern im Fuss.
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Wieder zu Hause, rief ich die nächste Klinik auf der Liste an. Diesmal wollte ich sicher sein, dass es sie auch wirklich gab. Das tat sie, doch: «Eine Scherbe? Oh, hmm ... Tut uns leid, aber dafür haben wir nicht die nötigen Ressourcen!» Die dritte Klinik hatte erst vier Tage später einen Termin, und für die vierte hatte ich nicht die richtige Versicherung.

«Na gut», sagte Victor. «Mach ich es halt selber!» Immerhin hatte er sich schon mal einen Fischerhaken aus dem Bein geschnitten oder eine Platzwunde genäht, oder beides. Er schenkte mir einen recht gut bemessenen Shot Tequila ein und setzte eine Stirnlampe auf. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Heldin in einem Westernfilm. Doch nach einer halben Stunde gab er auf. «Tja, wenn es eine Kugel wäre ...», seufzte er. «Die würde man wenigstens sehen!» Ich fragte nicht nach.

Am nächsten Tag war der Fuss so geschwollen, dass ich schon fast hoffte, es sei schlimm genug für den «richtigen» Notfall. Doch nach weiteren Stunden am Computer fand ich eine Klinik, die mich gegen Barzahlung noch am selben Abend behandeln konnte. Der Eingriff dauerte ganze drei Minuten und kostete nur zweihundert Dollar. Ich war so schnell fertig, dass die Ärztin einen nicht angemeldeten Jugendlichen behandeln konnte, der auf einen alten Skistock gestützt angehumpelt kam und nicht genau erklären konnte, wie er sich seine Verletzungen zugezogen hatte und wann. Er konnte nicht älter als 16 oder 17 sein. Und er war allein. Die Sprechstundenhilfe, die in meinem Alter war, wechselte einen Blick mit mir, von Mutter zu Mutter.

Als Victor mich abholte, lag eine Schachtel Kuchen auf dem Beifahrersitz. «Die hast du dir verdient», sagte er. Nein. Nicht ich. Ich brachte die Schachtel in die Klinik. «Für den Jungen, der vorhin reinkam.»

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