Milena Moser über amerikanischen Rassismus gegen Asiaten
Fremde im eigenen Land

Eine der vielen ebenso unvorhersehbaren wie herzzerreissenden Folgen der Pandemie ist die Zunahme rassistischer Übergriffe auf Amerikaner asiatischer Herkunft. Wie meine Freunde Betti und Jon.
Publiziert: 16.08.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2021 um 12:23 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

«Ich musste 80 Jahre alt werden, um mich zum ersten Mal als Fremde zu fühlen», sagt Betti. Sie ist in Amerika geboren und aufgewachsen, ebenso wie ihre Eltern. Die Grosseltern waren es, die in dieses Land einwanderten, vor mehr als hundert Jahren. In einem jungen Land wie Amerika sind hundert Jahre eine Ewigkeit. Ausserdem ist jeder hier ein Einwanderer. Jeder, der nicht von den Ureinwohnern abstammt. Viele Amerikaner scheinen das allerdings zu vergessen. Selbst unser guter Freund Mike, der Victor einmal so vorstellte: «Victor hier ist vermutlich der Einzige, dessen Familie schon vor meiner hier war, allerdings natürlich südlich der Grenze.»

«Welcher Grenze?», fragte Victor, der solche Bemerkungen bewundernswert gelassen hinnimmt. Der amerikanische Rassismus ist ein schlangenköpfiges Monster, dem ständig neue Fratzen nachwachsen. Er richtet sich nicht in erster Linie gegen Ausländer und Einwanderer, sondern gegen die eigenen Leute. Er macht sich nicht an der Herkunft fest, sondern an der Hautfarbe. Nicht-weisse Amerikaner werden als Fremde wahrgenommen und so behandelt. Sie sind Menschen zweiter Klasse.

Das empfand Betti allerdings früher nie so: «Ich hab mich immer als Amerikanerin gefühlt. Auch wenn ich Verwandte in China besuchte, hiess es immer: Da kommt die Amerikanerin! Man sagte mir, ich bewege mich wie eine Amerikanerin, ich rede wie eine Amerikanerin, nämlich viel zu laut.» Sie lacht, aber es klingt nicht fröhlich.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: zVg

Auch Jon ist hier geboren, vor vielleicht vierzig Jahren. Der erfolgreiche Geschäftsmann spielt die Verletzungen der letzten Monate herunter. «Die Leute haben einfach Angst», erklärt er die Tatsache, dass er jetzt im Flugzeug immer eine Sitzreihe für sich allein hat, weil seine Nachbarn jedes Mal um einen anderen Platz bitten. Und den auch bekommen. Ohne Nachfrage. Es kann einem Fluggast offenbar nicht zugemutet werden, neben einem Menschen mit asiatischen Gesichtszügen zu sitzen. «Na und, mehr Platz für mich», sagt er trotzig. «Da werd ich mich doch nicht beschweren!» Es klingt, als wolle er sich selbst überzeugen.

Bei Betti waren es subtilere Botschaften: Eine gute Bekannte erklärte, dass sie bei ihrem Lieblingschinesen kein Essen mehr bestelle – denn man wisse ja, dass diese Leute riesige Familien haben, unzählige und nicht zu kontrollierende Verwandte, die ständig ein- und ausreisten und wer weiss was einschleppten.

«Diese Leute», wiederholt Betti und seufzt. «Das Komische war, dass ich nicht gleich kapierte, dass sie auch mich damit meinte. Ich vergesse manchmal, wie ich aussehe. Ich vergesse, dass ich Chinesin bin.» Sie lacht. «Ich vergesse ja auch, wie alt ich bin ...» Die zunehmenden Übergriffe, die Schlagzeilen machten, bezog sie nicht auf sich. Doch die Bekannte liess nicht locker: «Wie ist das denn bei dir, Betti? Du hast doch bestimmt auch Verwandte, die dich ständig besuchen.» Und dann kams: «Vielleicht sollten wir nicht mehr zusammen spazieren gehen. Bis das alles vorbei ist.»

Betti zuckt die schmalen Schultern. «Das hab ich ja ohnehin nur ihr zuliebe getan», sagt sie. «Da bleib ich doch lieber zu Hause.» Und ich erkenne die etwas erzwungene Tapferkeit wieder, die ich auch von Jon gehört habe. Ich möchte etwas sagen, das Betti trösten könnte, etwas Kluges, etwas Hilfreiches, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein.

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