Milena Moser
Die Kunst des Vergänglichen

Die erste Woche im Oktober ist immer die anstrengendste des ganzen Jahres. Die anstrengendste und auch die inspirierendste. Es ist die Woche, in der Victor seine jährliche Installation zum Día de los Muertos aufbaut. Und ich helfe ihm dabei.
Publiziert: 11.10.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2021 um 16:38 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

Vor sieben Jahren war ich zum ersten Mal dabei. Genau genommen war das unser erstes Date. Unsere Liebe hatte sich aus einer Freundschaft entwickelt, war sechs Monate lang über Skype gewachsen, bis ich kurzerhand für eine Woche nach San Francisco flog. Ich wusste, dass Victor in dieser Woche seinen Altar installierte, und hatte versprochen, ihm dabei zu helfen. Ohne zu wissen, worauf ich mich da einliess.

Ich stellte mir romantische Abendessen vor, Spaziergänge im Park, man kann ja nicht immer nur arbeiten. Ha! Doch, man kann. Das lernte ich schnell. Die hübschen Kleider blieben im Koffer, ich lieh mir Latzhosen und Werkzeuggürtel von Victor aus und verbrachte die folgende Woche in der Werkstatt, oft bis morgens um drei. Ich lernte, die Nagelpistole und die Kreissäge zu bedienen, auf hohe Leitern zu klettern, bunte Scherenschnitte übereinander zu kleben, ohne das hauchdünne Seidenpapier zu beschädigen.

Victors Installationen sind überdimensionierte Interpretationen traditioneller Altare. Mal ist es ein begehbarer Tempel, mal eine Pyramide, mal sind es mehrere Türme. Die vier, fünf Meter hohen Holzgerüste müssen aufgebaut, verkabelt, von innen beleuchtet und dann mit unzähligen Schichten hauchdünner Scherenschnitte aus buntem Seidenpapier beklebt werden.

Der Día de los Muertos bedeutet für Milena Moser und ihren Mann Victor Arbeit. Schöne Arbeit.
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Anfangs hatte ich ständig Angst, einen Fehler zu machen. Das Kunstwerk zu ruinieren. Doch Victor sagt: «Es gibt keine Fehler. Es gibt nur neue Wege.» Er passt seine Pläne vorzu den Gegebenheiten an. Denn irgendetwas geht immer schief. Doch da regt er sich nicht auf. Falsch zugeschnittene Streben verändern das Gerüst. Auf der Vorderseite geleimtes Papier ergibt einen subtileren Farbeffekt. Ausgebrannte Neonröhren bedingen einen Notkauf im Baubedarf, wo gerade Effektlampen im Spezialangebot zu haben sind. Und plötzlich sieht der von innen beleuchtete Altar aus, als würde er sich bewegen.

Die Stimmung im Atelier und in der Galerie ist immer gut. Freunde kommen und gehen, helfen eine Stunde oder einen Tag lang mit. Musik läuft, man unterhält sich und arbeitet dabei zügig. Das gemeinsame Arbeiten erzeugt eine eigene Nähe, ein Gefühl von Verbundenheit. Manchmal erfüllt mich dann ein leiser Neid. Was ist Schreiben doch für eine einsame und vergleichsweise spröde Arbeit, denke ich.

Es gibt auch jedes Jahr den Moment, in dem ich denke: Das schaffen wir nicht. Und dann geht es doch. Wenn auch meist im allerletzten Moment. Die ersten Besucher strömen schon in die Galerie, während wir unsere Werkzeuge zusammenpacken. Das war auch dieses Jahr nicht anders. Die Mischung aus Stolz und Erschöpfung, wenn der Altar endlich steht und leuchtet und lebt, lässt sich mit nichts vergleichen. Zu sehen, was er in den Besuchern auslöst, wie sie reagieren. Doch das Berührendste kommt für mich immer ganz am Ende, wenn die Installation wieder abgebaut wird. Denn das Kunstwerk ist vergänglich. So wie das Leben. Einen Monat später stehen wir wieder mit unseren Werkzeugtaschen in der Galerie, zerlegen das Gerüst, rollen die Papierbanner zusammen. Die Scherenschnitte hängen noch eine Weile zu Hause an den Fenstern, bis auch sie verblasst sind. Nichts bleibt.

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