Kolumne von Michael Hengartner
Infektionsvorhersage?

Michael Hengartner ist Präsident des ETH-Rats – und damit so etwas wie der Chef-Forscher der Schweiz. In seiner Kolumne erklärt er Wissenswertes aus der Wissenschaft. Diese Woche: der Wetterbericht als Inspiration für die Virenprognose.
Publiziert: 21.04.2021 um 14:54 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2021 um 17:58 Uhr
Michael Hengartner

Es war eine der schlimmsten Tragödien in der Geschichte der Seefahrt. Die Passagiere der Royal Charter hatten die 23'000 km lange Reise von Australien nach Liverpool praktisch schon hinter sich, konnten die Küste bereits sehen, kamen in einigen Momenten auf wenige Hundert Meter heran – und wurden vom Sturm dann doch wieder hinaus aufs Meer getrieben. Dort sank das Schiff am 26. Oktober 1859 vor der walisischen Küste. 449 Menschen starben.

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Das einzig Gute am Drama: Es illustrierte deutlich, wie wichtig eine gute Wetterprognose gewesen wäre. Dabei schien die Idee, das Wetter vorhersagen zu wollen, lange Zeit irrwitzig. Denn das Wetter ist wahnsinnig kompliziert. Wind und Wolken schlagen allerlei Kapriolen, und dann scheint doch wieder überraschend die Sonne. Um aus diesem Durcheinander schlau zu werden, brauchte es präzise Messtechniken, intelligente Modelle und vor allem sehr viel Arbeit und Rechenleistung. Doch schrittweise kam die Meteorologie dort an, wo wir heute sind: bei einfachen Apps auf dem Handy, die uns sagen, ob wir den Schirm mitnehmen oder einen Pulli anziehen sollen.

Was wäre, wenn wir dasselbe auch bei Krankheiten tun könnten? Wenn uns beispielsweise eine App sagen könnte: «Aktuell viele Erkältungen in der Nachbarschaft»? Dann könnten wir angemessen darauf reagieren. Wir würden uns öfter die Hände waschen, weniger ins Gesicht fassen oder häufiger lüften. Und wer ein geschwächtes Immunsystem, bereits etwas Kopfweh oder eine trockene Nase hätte, würde eine Maske tragen.

Michael Hengartner (53) ist Präsident des ETH-Rats und Kolumnist im SonntagsBlick Magazin. Zuvor war der Biochemiker Rektor der Universität Zürich.
Foto: Nathalie Taiana

Noch ist die Virenprognose nicht viel mehr als ein Gedankenspiel. Wenn wir dieses in die Tat umsetzen wollten, wären die jährlichen Grippewellen wohl das ideale Trainingsgebiet. Wie beim Wetter würden wir unterschiedlichste Daten beobachten und kombinieren. Man könnte etwa schauen, wie sich der Absatz bestimmter Medikamente in der Dorfapotheke entwickelt. Das Abwasser könnte auf Spuren von Viren untersucht werden. Und wenn in einem Quartier auffällig häufig «Was tun gegen Fieber?» gegoogelt wird, könnte man schnell dort genauer hinschauen. Daneben müssten wir aber natürlich auch wissen, wie sich die Menschen aktuell bewegen, ob sie sich eher drinnen oder draussen treffen und vieles Weitere mehr.

Noch sind wir weit von Infektionsrisiko-Vorhersagen entfernt. Bei Corona versuchen wir aktuell, uns mit Tests ein genaueres Bild zu verschaffen, und hinken wegen der Inkubationszeit doch immer nur hinterher. Aber dass es kompliziert ist, heisst noch lange nicht, dass es nicht geht. Wer weiss schon, welche Möglichkeiten wir in ein paar Jahren oder Jahrzehnten haben werden?

Nach dem Untergang der Royal Charter wurde in England ein Frühwarnsystem für Stürme aufgebaut. Und zwei Jahre später erschien die erste Wetterprognose in einer Zeitung. Sie war anfangs noch schrecklich ungenau, heute aber können wir uns ziemlich gut auf sie verlassen. Wer weiss, vielleicht wird Corona ja für die Virenvorhersage einmal das, was das Schiffsunglück für die Wettervorhersage war. Dann hätte die Pandemie doch noch etwas Gutes gebracht.

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