Essay von Lukas Bärfuss
Wir sollten uns alle «Wir sind geimpft»-Buttons anheften

Wir haben zwei Möglichkeiten: Impfung oder Ansteckung. Wer sich für die Impfung entscheidet, denkt an alle – wer darauf verzichtet, denkt nur an sich. Lukas Bärfuss fordert solidarisches Handeln.
Publiziert: 11.09.2021 um 17:36 Uhr
Lukas Bärfuss

Leider beherrscht die Pandemie weiterhin unser Leben, auch wenn einige europäische Regierungen und die Gewerbe- und Arbeitgeberverbände dieser Erde allenthalben ihr Ende verkünden. In den Krankenhäusern und im Alltag der Menschen ist sie bittere Wirklichkeit. Zu viele erkranken an Covid-19. Zu viele erleiden schwere und dauernde gesundheitliche Schäden. Zu viele überleben diese Infektion nicht. In der Blüte ihres Lebens werden sie dahingerafft, sterben in Tagen, Wochen, manchmal in wenigen Stunden. Die Mutante Delta grassiert, sie ist leicht übertragbar und aggressiv.

Aber es gibt Hoffnung. Die Wissenschaft schläft nicht. Täglich lernen wir mehr über das Virus und seine Funktionsweise. Wir haben der Forschung viel zu verdanken, viele Erkenntnisse, aber wir erkennen auch, wie gross nach wie vor das Unwissen ist, wie oft wir uns irren, wie viel noch zu lernen ist und wie sorgfältig wir sein müssen.

Eine Tatsache allerdings ist klar seit bald achtzehn Monaten. Sie lautet: Impfung oder Ansteckung, etwas Drittes gibt es nicht. Der einzige freie Vektor ist die Zeit. Über kurz oder lang erfolgt ohne Impfung eine Ansteckung.

«Impfung oder Ansteckung, etwas Drittes gibt es nicht», schreibt Lukas Bärfuss in seinem Essay über das zivile Mitgefühl. Trotzdem dümple die Impfquote hierzulande vor sich hin, und der Enthusiasmus scheine verflogen zu sein.
Foto: Philippe Rossier
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Da es diese Impfung gibt und dieser Triumph der Wissenschaft möglich war, kann die gemeinsame Aufgabe nur lauten, möglichst vielen Menschen möglichst rasch diesen Schutz verfügbar zu machen. Aber leider dümpelt hierzulande die Impfquote vor sich hin, und jeder Enthusiasmus scheint verflogen.

Gibt es Argumente gegen die Impfung?

Natürlich, mehr als eines.

Aber wer immer diesen Argumenten folgt, wie sie auch immer lauten mögen, und sich nicht impft, entscheidet sich individuell. Die anderen aber handeln kollektiv. Dieses Handeln und das Kollektiv müssen angesprochen und bemüht werden.

Leider geschieht das viel zu selten. Die Verantwortung dafür tragen wir alle. Jeder, der bereits geimpft ist, darf über seine Erfahrung reden. Warum gibt es noch keine Buttons zum Anheften, die fröhlich verkünden, dass man geimpft ist? Dann wäre auch ein guter Teil der nutzlosen Diskussion zur Zertifikatspflicht gleich erledigt. Vertrauen tut not, und sowohl schamhaftes Verstecken wie neugieriges Fragen untergraben es.

Und immer noch sind die Hürden zu hoch. Die digitale Anmeldung ist zu kompliziert und erschwert zu vielen Menschen die Terminfindung. Der Zugang muss auf allen Ebenen vereinfacht werden. Noch immer sieht man viel zu wenige mobile Impfstationen. Und sämtliche freien Dosen in den Apotheken müssen bekannt gemacht und verimpft werden.

Wo sind die Berufsverbände?

Die Behörden erreichen einen Teil der Bevölkerung nicht. Das ist nicht einfach der Fehler des Empfängers. Der Sender leidet an denselben Schwächen, die wir seit achtzehn Monaten ertragen. Viele Menschen verstehen nicht, was der Bund und die Kantone wollen, was ihre gemeinsame Politik ist, in welche Richtung sie geht und was die nächsten Schritte sein sollen.

Die Mängel finden sich nicht nur bei den Behörden. Niemand kann sich aus der Verantwortung entlassen. Es ist eine Aufgabe der gesamten Zivilgesellschaft. Warum reagieren die Berufsverbände nicht? Warum engagiert sich der Coiffeurverband nicht deutlicher, um seine Mitglieder zu informieren? Warum bemüht man sich so wenig? Wo bleiben die Kirchen? Warum sprechen sie die Christinnen und Christen nicht entschiedener auf die Impfung an? Nächstenliebe wäre doch in diesem Fall das beste Argument.

Vernünftige Einwände gibt es nicht. Das gesellschaftliche Interesse an einer hohen Impfquote ist überwältigend.

Schluss mit Debatten, jetzt muss gehandelt werden

Zu wenige handeln und unternehmen das Praktische, Notwendige und Heilsame. Zu viele halten sich mit vergifteten Debatten auf. Das ist nicht nur überflüssig, es ist schädlich. Es vertieft die gesellschaftlichen Gräben, es stigmatisiert und verteilt die Schuld, anstatt den Schutz und die Sorge in den Mittelpunkt zu stellen.

Eine Seuche betrifft immer das gesamte Kollektiv, ausnahmslos jeden Menschen. Deshalb muss jede Anstrengung zu ihrer Bekämpfung eine gemeinsame sein. Die wichtigste Fähigkeit einer Gesellschaft während einer Pandemie ist Eintracht, oder, wer das moderne Wort lieber mag, die Solidarität.

Wer auf eine Impfung verzichtet, muss wissen, dass er den Preis dafür nicht alleine bezahlt. In jedem Bett kann jeweils nur ein kranker Mensch liegen. Krank und schwach wird aber jeder früher oder später, aus welchem Grund auch immer. Das ist der Lauf der Zeit. Und wie alles unter dem Himmel ist auch die Anzahl der Betten und der Pflegekräfte beschränkt. Im Angesicht eines Menschen, der in Not ist und Hilfe braucht, ist es ferner einerlei, ob er geimpft ist oder nicht. Er verdient die gleiche Sorge, die gleiche Betreuung wie alle anderen auch.

Aber er muss auch wissen, dass seine individuelle Entscheidung Leid verursacht. Und dieses Leid ist übel. Der Schmerz, die Angst, der Verlust – bei den Patienten, bei ihren Liebsten, bei den Pflegerinnen und bei den Pflegern und bei den Ärztinnen und bei den Ärzten. Sie ertragen es seit achtzehn Monaten Tag für Tag. Es ist ein Akt der Solidarität, wenn man dieses Leid zu verhindern sucht. Es gibt die Zivilcourage, die wir alle bewundern. Und es gibt ihr Gegenstück, das zivile Mitgefühl. Wem die grossen Worte nicht behagen, der mag sich mit jenem der Höflichkeit begnügen.

Die Zeit ist nicht auf unserer Seite

Wie gesagt: Der einzige freie Vektor ist die Zeit. Und in einer Pandemie ist sie leider nicht auf unserer Seite. Gerade jetzt rennt sie uns davon. Bald kommen kältere Tage, das Leben verlagert sich in die Innenräume. In der kommenden Jahreszeit möchten wir nicht noch einmal zu Hause sitzen müssen, im Dunkeln, alleine. Denkt nur nach, ihr Sport- und Freiluftbegeisterten! Bald locken wieder die Berge, der Schnee und die Alphütten. Das dürfte kein Problem werden – wenn ihr euch denn impfen lässt. Wer den kommenden Winter geniessen will, der muss sich jetzt um seine Impfung kümmern.

Der Bundespräsident hat recht, wenn er sie als Bürgerpflicht bezeichnet. Aber es ist der Fehler des Bundespräsidenten und seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger, dass sie diese Botschaft nicht täglich wiederholen. Zu viele schlagen aus dieser Krankheit politisches Kapital. Angst und Wut lassen sich trefflich organisieren. Aufgabe des Staates ist es aber, das Leben und die Gesundheit der Bürgerinnen zu schützen. Gesundheitspolitik ist keine Parteipolitik. Das gemeinsame Interesse überwiegt. Jeder Mensch, der an Covid erkrankt, fordert die Empathie der ganzen Gesellschaft.

Leider ist das zivile Mitgefühl ein gefährdetes und ein knappes Gut. Es ist umso kostbarer, denn erst Mitgefühl schafft die Grundlage für ein besseres Leben – vor, während und nach der Pandemie.

Übrigens wurde ich am Montag, 12. Juli 2021, um zehn Uhr früh im Impfzentrum Zürich zum zweiten Mal mit Pfizer/Biontech geimpft. Ich bemerkte keinerlei Beschwerden oder Nebenwirkungen. Und wenn ich heute keinen Button finde, bastle ich mir morgen selber einen.


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