Lukas Bärfuss kritisiert die Olympia-Strukturen
Die Soldaten des Sports

Den Athletinnen und Athleten der Olympiade wird jede politische Äusserung verboten. Dafür sorgen die Funktionäre. Fragwürdig ist auch deren Verbandelung. Wo bleibt der Aufschrei?
Publiziert: 14.08.2021 um 19:06 Uhr
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Lukas BärfussSchriftsteller

Raven Saunders wagte viel. Nachdem die amerikanische Kugelstösserin an den Sommerspielen in Tokio die bronzene Medaille gewonnen hatte, kreuzte sie bei der Siegerehrung die Arme über ihrem Kopf und verstiess damit gegen die Olympische Charta. «Es ist der Schnittpunkt, an dem sich alle unterdrückten Menschen treffen», sagte Saunders und fuhr in einem Gespräch mit NBC fort: «Ich bin eine schwarze Frau, ich bin queer, und ich spreche über psychische Gesundheit – ich habe viel mit Depressionen, Angstzuständen und Posttraumatischen Belastungsstörungen zu tun – also stehe ich für mich persönlich an dieser Schnittstelle. Ich habe mich entschlossen, meine Plattform zu nutzen, um für all diese Menschen zu sprechen, für jeden, der einen Teil oder eine dieser Gruppen repräsentiert, diese Medaille ist vor allem für sie.»

Raven Saunders hatte Glück. Während der Olympischen Spiele starb ihre Mutter. Das IOC leitete zwar ein Verfahren ein, sah aber von einer Strafe ab. «Das IOC spricht Raven und ihrer Familie natürlich sein Beileid aus», sagte IOC-Sprecher Mark Adams. «Sie werden hoffentlich verstehen, dass unter diesen Umständen der Prozess im Moment vollständig ausgesetzt ist.«

Die Herren der Ringe liessen Gnade vor Recht ergehen. Unter diesen Umständen. Und im Moment. Eine Warnung an alle anderen Athletinnen. Denn Artikel 50 der Olympischen Charta ist ein Herzstück der selbstdefinierten politischen Neutralität. «Keine Art von Demonstration oder politische, religiöse oder rassistische Propaganda ist in den olympischen Stätten, Austragungsorten oder anderen Bereichen erlaubt.»

Olympia-Athleten und -Athletinnen dürfen sich nicht politisch äussern, die amerikanische Kugelstösserin Raven Saunders tat es dennoch.
Foto: Getty Images
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Hauptsache, die Spiele werden durchgeführt

Den Athletinnen und Athleten wird jede politische Äusserung verboten. Auf welcher Seite das IOC steht, ist jedoch klar, es steht auf der Seite der Macht. Wer diese Macht in den Händen hält, spielt für das IOC keine Rolle, Hauptsache, die Spiele können durchgeführt werden. Es hat sich nie gescheut, Diktatoren die Hände zu reichen, im Gegenteil. Die wichtigsten Figuren in der Geschichte des IOC hatten selbst enge Verbindungen zu totalitären Regimes. Allen voran Juan Antonio Samaranch, der vormalige Präsident des IOC. Er war Mitglied der Falange und hoher Funktionär unter dem spanischen Diktator Franco. Es schien ihm kein Problem, dem Peiniger der Rumäninnen, Nicolae Ceausescu, in Anerkennung für die grossen Verdienste für die olympische Bewegung den Olympischen Orden in Gold zu überreichen. Neben Erich Honecker, Adolf Ogi, Indira Gandhi durfte sich jüngst auch Papst Franziskus das Metall ans Revers hängen. Das IOC ist unpolitisch und liebt jeden, der die Macht in seinen Händen hält.

Das alles ist bekannt, genau wie die endemische Korruption in den Kreisen des IOC. Zu befürchten hatten die Herren der Ringe bis jetzt wenig. Zu viele Interessen stehen hinter dem Sport, zu viel Geld wird umgesetzt. Und zudem hat die olympische Bewegung klugerweise ihren Sitz in einem Land, in dem es trotz Milliardengewinne von den Steuern befreit ist. In einem Land auch, mit dem es nicht nur viele Werte, wie etwa die Neutralität, sondern auch manche Funktionäre und sogar die Soldatinnen teilt.

Kein Recht auf freie Meinungsäusserung

Ein junger Mensch, der sich für seinen Sport begeistert und an Olympia teilnehmen möchte, um sich mit den Besten seiner Disziplin zu messen, muss Mitglied eines Verbands sein, der seinerseits Mitglied des nationalen Olympischen Verbands ist. In der Schweiz ist dies Swiss Olympic. In aller Regel verfügen die Verbände über ein Monopol und sind alleinige Vertreter ihrer Sportart. Um seinen Sport ausüben zu können, muss sich der Athlet deshalb, ob er will oder nicht, den Regeln und Statuten unterwerfen, die von den jeweiligen Verbänden erlassen werden. Und dasselbe gilt für die olympischen Selektionskriterien. Dies ist legitim, solange die Reglemente den Sport in seinem Kern betreffen und bestimmen, wie die Wettbewerbe ausgetragen werden, wie die Geräte aussehen müssen, damit die Gleichheit der Mittel und damit die Fairness gewahrt ist. Die Reglemente für die Olympischen Spiele, festgehalten in der Charta, gehen weit darüber hinaus und untersagen den Sportlerinnen und Sportlern, ihr Recht auf freie Meinungsäusserung wahrzunehmen. Nicht nur in der Schweiz ist dies ein Grundrecht. Und ein Vertrag, der verlangt, auf dieses oder einen anderen Grund zu verzichten, ist nach dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch sittenwidrig und damit ungültig. Art. 27 ZGB definiert: «Niemand kann sich seiner Freiheit entäussern oder sich in ihrem Gebrauch in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden Grade beschränken.»

Die Funktionäre sorgen dafür, dass kein Sportler gegen diese Verletzung seiner Grundrechte klagt. Erstens durch die Konzentration der Macht bei Swiss Olympic. Im Exekutivrat, dem leitenden Gremium, sitzen die Vertreter der wichtigsten Verbände, unter anderem die Präsidenten der Fifa und der Internationalen Hockeyföderation. Doch die Sportfunktionäre sind nicht alleine. Mit am Tisch sitzt auch die Politik. Qua Amt ist der Geschäftsführer des Bundesamts für Sport Mitglied im Exekutivrat.

Subventionsgeber sitzt in der Leitung des Subventionsnehmers

Das Bundesamt betreibt die Hochschule für Sport in Magglingen, fördert den Breiten- und den Jugendsport. Aber vor allem verteilt es die öffentlichen Subventionen – auch an Swiss Olympic. Im vergangenen Jahr waren es fast 35 Millionen Schweizer Franken, nicht eingerechnet die 96 Millionen Corona-Hilfen.

Der Subventionsgeber sitzt in der Leitung des Subventionsnehmers. Ein Umstand, der nur im Sport kritiklos hingenommen wird. Man stelle sich vor, der Chef des Bundesamts für Landwirtschaft sässe gleichzeitig in der Führung des Bauernverbands, oder die Direktorin des Bundesamts für Kultur nähme Einsitz im Dachverband Suisseculture. Der Aufschrei wäre gross.

Das Bundesamt für Sport ist dem VBS angegliedert, und so ist auch die Schweizer Armee eine enge Partnerin von Swiss Olympic. Die Zusammenarbeit trägt Früchte. Sieben der dreizehn Schweizer Medaillen in Tokio wurden von sogenannten Sportsoldatinnen gewonnen. Sie absolvieren die Spitzensport-RS in Magglingen und werden sogenannte qualifizierte Athleten. Bis 2023 soll die Kapazität deshalb auf 70 Rekruten pro RS erhöht werden. Die Selektion, so verfügt es die Armee, erfolgt in enger Zusammenarbeit zwischen dem jeweiligen Sportverband, Swiss Olympic, dem Bundesamt für Sport und dem Kommando der Spitzensport-RS.

Die Interessen decken sich. Die Sportler werden vom Bund angestellt und entlöhnt, profitieren vom Know-how und steigern gleichzeitig, so die offizielle Doktrin, im In- und Ausland das Ansehen der Schweizer Armee. Bekanntlich steckt in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist, und man kann sich vorstellen, wie das Militär diese Gesundheit definiert. Kritische, aufmüpfige Geister wie die mutige Raven Saunders jedenfalls werden die militärische Selektion kaum überstehen und damit schon vorher aussortiert.

Winterolympiade in Peking steht unter Beobachtung

Tokio ist vorbei, aber nach den Spielen ist vor den Spielen. Und die Kritik wird lauter. Die nächste Winterolympiade in Peking steht unter Beobachtung der Weltöffentlichkeit. Der Zynismus und die Verlogenheit der olympischen Bewegung sind offensichtlich und werden zu Debatten führen. Aber es ist mehr als unsicher, ob sie auch zu den nötigen Veränderungen führen werden.

Die Schweiz könnte hier eine Schlüsselrolle spielen. Leider besitzt hierzulande niemand die Unabhängigkeit oder nur den Willen, um sich gegen die Herren der Ringe und ihre menschenverachtende Politik zu stellen. Das Parlament schweigt, und von der schweizerischen Regierung hat das IOC nichts zu befürchten. Im Gegenteil. Im nächsten Februar werden Soldatinnen und Soldaten der Schweizer Armee ihren Dienst fürs Vaterland im fernen Peking leisten. Offizielle Vertreter der Schweiz werden damit Teil der chinesischen Propaganda, werden Werbung machen für deren Verletzung der Menschenrechte und für den Genozid an der uigurischen Minderheit. Die jungen Menschen werden für den Kommerz und autoritäres Regime instrumentalisiert. Der militärisch-industrielle Komplex, der die totale finanzielle, politische und sportliche Macht in seinen Händen hält und ihnen sogar die Grundrechte nimmt, zwingt sie, zu diesem Unrecht zu schweigen.

Aber immerhin, damit können sich die Soldaten trösten, opfern sie sich für einen höheren Zweck. Denn wie heisst es doch so schön und edel in der Charta: «Ziel des Olympismus ist es, den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist.»

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