Lukas Bärfuss
Berset und Cassis sollten zurücktreten

Die Pandemie und das Verhältnis zur Europäischen Union überfordern das System Schweiz, was sich exemplarisch an Aussenminister Cassis und Innenminister Berset zeigt. Sie sollten die Konsequenzen tragen und zurücktreten.
Publiziert: 17.04.2021 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.05.2021 um 16:25 Uhr
Lukas Bärfuss erklärt, was hinter der «helvetischen Normalität» steckt.
Foto: Philippe Rossier
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Lukas Bärfuss

Die Schweizer Regierung besteht aus sieben Bundesräten, und jeder dieser sieben Bundesräte steht am Kopf einer Behörde, deren Aufgabe es ist, die helvetische Normalität zu verwalten. Diese Normalität fusst auf der «gemeinsamen Wohlfahrt», wie es im Zweckartikel der Bundesverfassung steht. In der Regel benutzt man einen anderen Begriff, das Bruttoinlandprodukt (BIP) nämlich, also die Summe aller gehandelten Waren und Dienstleistungen. Da seit Menschengedenken dieses BIP in fast jedem Quartal positiv war, bestand die helvetische Normalität in der Verteilung der Überschüsse. Darin ist die Schweiz äusserst effizient. Sie weiss, wie man die verfügbaren Mittel am besten einsetzt, um einen möglichst grossen Ertrag zu erzielen. Einsatz und Ertrag bemessen sich ausschliesslich nach wirtschaftlichen Grössen. Deshalb folgt die helvetische Normalität der Funktionsweise und dem Ideal transparenter Märkte. Die Ware ist frisch, der Preis ist angemessen und vergleichbar, Marge und Profit sind ausreichend, die Konkurrenz intakt, der Konsument hat nichts zu maulen. Reklamieren ist möglich, aber unangebracht. Die helvetische Normalität ist gesund, sie kennt Beschwerden nur im Einzelfall, nicht im Grundsatz.

Fragen sind in der helvetischen Normalität nicht nur unnötig, sie sind ein Zeichen für Unordnung, für das Abnormale. Fragen stören den reibungslosen Ablauf und zersetzen das System. Der Sinn ist gegeben, der Zweck ist definiert. Die nationale Kohäsion folgt nicht aus gemeinsamen Werten, die ausgehandelt werden müssten. Der schweizerische Zusammenhalt ist nicht geistig, nicht immateriell, er braucht keinen Austausch, keine Entwicklung, der Zusammenhalt kann berechnet werden, denn er ist eine Zahl, sie trägt einen Namen, er lautet «Nationaler Finanzausgleich».

Leider gibt es hin und wieder Herausforderungen, die sich nicht in die Marktlogik übersetzen und deshalb nicht mit Geld lösen lassen.

Hier kommt die helvetische Normalität an ihre Grenzen. Die Pandemie und das Verhältnis zur Europäischen Union sind solche Herausforderungen. In beiden Fällen stolpert das System, die Politik ist überfordert, sie reagiert inkohärent, die Reaktionen wirken absurd.

Jede Person hat nur ein Leben

Denn entgegen der helvetischen Prämisse lässt sich der Wert des menschlichen Lebens in keiner Zahl darstellen. Ob arm oder reich, dünn oder dick, schön oder hässlich, gesund oder krank: Jede Person hat nur ein Leben. Das Budget ist vorgegeben. Leider ist der Bundesrat nicht in der Lage, diese existenzielle Tatsache in Worte zu fassen. Die helvetische Normalität hat dafür kein Vokabular. Was nicht ökonomisch erklärt werden kann, kann überhaupt nicht erklärt werden. Wenn etwas auftaucht, das in der helvetischen Normalität nicht existieren darf, dann wird es ausgesondert. Zuerst sprachlich: Man entwirft Neologismen und rhetorische Figuren.

Zwar ist jeder Mensch verletzlich. Jeder Mensch wird krank, alt und schwach. Daran ist nichts zu ändern. Aus dieser Tatsache erwächst die Kostbarkeit und der Reichtum des Lebens. Die politische Sprache unseres Landes kann dies allerdings nicht fassen. Und statt die Menschen zu stärken, die Solidarität, die Fürsorge und die Eintracht in der Bevölkerung zu fördern, zu fragen, wie wir einander helfen und unterstützen können, isoliert man die Schwachen und grenzt sie aus. Dazu erfindet man zuerst einen Begriff, jenen der «vulnerablen Bevölkerungsgruppen». Sie gehören nicht mehr zur helvetischen Normalität. Dieses Prinzip hat in der Schweiz eine lange und leidvolle Tradition. In anderen Zeiten waren es die Fahrenden, die unverheirateten Mütter, die arbeitsscheuen Vaganten, die interniert, kastriert und sterilisiert wurden. Heute sind es die Alten und die Kranken, die dem Prinzip der Eugenik zum Opfer fallen. Sie alle passen nicht in den ökonomischen Verwertungszusammenhang, man kann auf sie verzichten.

Mitleid und Scham lassen sich nicht vollständig unterdrücken. Die Politik steht vor der Aufgabe, diesen eugenischen Massnahmen einen humanen Anstrich zu geben. Das führt zu unüberbrückbaren Widersprüchen. Die sprachlichen Volten und Kapriolen, die der Innenminister am vergangenen Mittwoch vollführen musste, um die neuesten Lockerungen zu erläutern und zu rechtfertigen, sind ein Beispiel für die innere Zerrissenheit und die Porosität der helvetischen Normalität. Denn obwohl die Inzidenzen und Fallzahlen steil ansteigen, hat die Regierung Lockerungen beschlossen. Und obwohl die Regierung Lockerungen beschlossen hat, bat der Innenminister die Bevölkerung, davon keinen Gebrauch zu machen. Er weiss natürlich, was die Lockerungen bedeuten, nämlich Krankheit und Tod; aber da man die begriffliche Triage bereits unternommen hat und dies nur die «vulnerablen Bevölkerungsgruppen» trifft, scheint die Lockerung vernünftig und gerechtfertigt. Die helvetische Normalität kann keine Rücksicht nehmen auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung, denn die einzige gemeinsame Basis ist die Wohlfahrt.

Wir funktionieren nur mit Gewinn

Die helvetische Normalität kennt nur die Verteilung des Gewinns. Einen gemeinsamen Verlust zu tragen, das vermögen wir hingegen nicht.

Auch in der Aussenpolitik stösst die Methode, jedes beliebige Problem durch den effizienten Einsatz finanzieller Ressourcen zu lösen, an ihre Grenzen. Und wie bei der Pandemie führt dies zu absurden Situationen. So bestand die europapolitische Diskussion der letzten Wochen tatsächlich in der Frage, mit welcher Delegation die Schweizer Regierung am kommenden Freitag nach Brüssel reisen wird. Der Aussenminister bewarb sich öffentlich um ein Ticket. Sein Argument? Er sei mit dem Dossier am besten vertraut. Unser Aussenminister war in den letzten Monaten im Oman, im Irak, in Algerien, im Senegal, in Abu Dhabi, in Oslo und in San Marino, aber von Brüssel hat er nur den Flughafen gesehen. Und dabei wird es auch bleiben. Am vergangenen Freitag entschied die Regierung, dass der Bundespräsident alleine nach Brüssel ziehen werde. Zu besprechen gibt es ohnehin nichts. Zu Hause will niemand das todgeweihte Rahmenabkommen retten.

Jahrzehnte der totalen Ökonomisierung fordern Tribut

Umgebracht wurde es von jener antieuropäischen Allianz, die schon vor dreissig Jahren dem EWR den Garaus machte. Dieser Bund zur Aufrechterhaltung der helvetischen Normalität besteht aus der nationalistischen Rechten, den neoliberalen Kapitalisten und der gewerkschaftlichen Linken, die in ihrem Kampf um gerechte Löhne vergessen hat, dass soziale Gerechtigkeit zur opportunistischen Besitzstandswahrung verkommt, wenn sie nur die eigene Klientel im Blick hat. Diese Linke sieht die Europäische Union ebenfalls nur in ökonomischen Zusammenhängen. Einen Plan für die Zeit nach dem Ende des Rahmenabkommens gibt es nicht. Statt für den EU-Beitritt einzustehen und auf europäischer Ebene für ihre Anliegen zu kämpfen, hat sie sich damit abgefunden, dass die Rechte aus der Schweiz ein europäisches Singapur formen will. Sie kämpft bloss noch um die Brosamen, um einen Platz am Katzentisch der Reichen, die sich bei ihrer Party vom Dienstleistungsproletariat bedienen lässt. Nach Jahrzehnten der totalen Ökonomisierung hat sie die Fähigkeit zur historischen Synthese verloren, sie ist ganz in der helvetischen Normalität aufgegangen. Hier ist man entweder ein wirtschaftliches Subjekt, oder man ist gar nichts.

Die beiden Herren, der Innen- und der Aussenminister, sind eigentlich ganz anders, aber sie kommen nur so selten dazu. Die helvetische Normalität zwingt sie zu einer Politik, die sie falsch finden: Berset wollte keine Lockerungen, und Cassis wollte gar nie fürs Rahmenabkommen kämpfen. Die beiden Herren könnten wenigstens jetzt ein Zeichen setzen, ein Zeichen der Hoffnung, der Stärke, ein Zeichen, dass noch jemand Verantwortung übernimmt und dieser tödliche Sachzwang, die helvetische Normalität, nicht das letzte Wort hat. Sie sollten, zum Wohl des Landes, von ihren Ämtern zurücktreten.

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