Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Putins Zynismus und Parmelins Ignoranz

Eine Rede von Putins Zögling Sergei Kirijenko wurde aus dem Internet entfernt. Grund: Sie kündigte den Russinnen und Russen schwere Zeiten an. Auch in Bern tut das verantwortliche Wirtschaftsdepartement so, als gäbe es den Krieg gegen die Ukraine im Grunde gar nicht.
Publiziert: 19.06.2022 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:37 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Wenn es um die Nachfolge von Wladimir Putin an der Spitze des Kremls geht, fällt zuallererst der Name Sergej Kirijenko. Dementsprechend legte sich der hochrangige Mitarbeiter in Putins Präsidialverwaltung in seiner Rede zum russischen Nationalfeiertag am 12. Juni ins Zeug. Er schwurbelte Sätze wie: «Die Tragödie des russischen Volkes besteht darin, dass es jahrzehntelang nicht vereint war. Dass ihm verboten wurde, seine Muttersprache zu sprechen, die Dichter zu lieben, die es liebte, die Lieder zu singen, die es kannte. Das wird nicht mehr so sein. Ich bin bereit, dies heute, morgen und in zehn Jahren zu garantieren.»

In seinem Überschwang sagte Sergej Kirijenko ausserdem: «Ganz Russland wird den von den Nazis zerstörten Donbass wiederherstellen. Ja, es wird mehrere Billionen Rubel kosten. Aber dieses Geld wird aus dem russischen Haushalt bereitgestellt – auch auf Kosten einer vorübergehenden Senkung des Lebensstandards des Landes.»

Das war dann doch ein Dreh zu viel. Nach kurzer Zeit wurde Kirijenkos Rede von der Website der regierungsnahen Zeitung «Iswestija» entfernt. Wer sie dort nachlesen möchte, findet bloss den Hinweis: «Sie
sind nicht autorisiert, auf diese Seite zuzugreifen.»

Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor
Foto: Paul Seewer

Wladimir Putin fordert von seinen Untertanen totale Ergebenheit. Das Menschenrechtsportal OWD-Info zählt 15 452 Verhaftungen im Zusammenhang mit Aktionen gegen den Krieg seit dessen Beginn am 24. Februar. Oppositionelle wie Ildar Dadin haben in den letzten Jahren darüber berichtet, wie es Regimekritikern ergeht. Dadins Buch «Der Schrei des Schweigens» über seine Zeit in der Strafkolonie IK-7 im Nordwesten Russlands ist ein erschütterndes Zeugnis von Unmenschlichkeit und Unterdrückung.

Der Petersburger Politwissenschaftler Igor Gretskiy, der sich seit Januar in Estland aufhält, berichtet mir in einem E-Mail: Die meisten Rentner Russlands unterstützen den Krieg vorbehaltlos. Auch die 30- bis 50-Jährigen sind dafür, allerdings mit deutlich weniger Enthusiasmus. Die Jungen in den grossen Städten lehnen ihn ab.

Putin ist darauf bedacht, seine Anhänger nicht allzu brutal vor den Kopf zu stossen. Er will ihnen vorgaukeln, sein faschistisches Paradies sei sozusagen gratis zu haben. Da passt eine Aussage wie jene von Sergej
Kirijenko, dass ganz Russland für den Wiederaufbau des Donbass den Gürtel enger schnallen müsse, natürlich nicht ins Konzept.

In den letzten Monaten haben Hunderttausende Russland verlassen. Die Kreml-Propaganda sieht sich mittlerweile gezwungen, auf den Exodus zu reagieren. So schrieb Putins Lieblingszeitung «Komsomolskaja Prawda» vor Wochenfrist in einem ausschweifenden Artikel: Natürlich hätten sich einige Verräter ins Ausland abgesetzt, um von dort aus gegen die Heimat zu hetzen. Bei den meisten Emigranten freilich handle es sich um Fachkräfte, die nach Corona einfach Lust auf einen Tapetenwechsel hätten. 70'000 IT-Spezialisten seien gegangen, weil sie Russland vom Ausland aus besser unterstützen könnten. Viele Menschen befänden sich auch schlicht in den Ferien. Und schliesslich gebe es noch jene Auswanderer, die «Angst haben, dass ukrainische Saboteure Terroranschläge in Russland verüben».

Wer bislang keinen Begriff davon hatte, was Zynismus ist, weiss es spätestens jetzt.

Vor Wochenfrist hat der Bundesrat die vollständige Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland beschlossen. Wie die Recherchen von SonntagsBlick zeigen, wollte Wirtschaftsminister Guy Parmelin das Embargo für russisches Erdöl ursprünglich jedoch nicht mittragen – aus Rücksicht auf den Rohstoffhandelsplatz Schweiz. Parmelins Departement krebste erst zurück, als sich abzeichnete, dass sich für einen solchen Antrag im Gesamtbundesrat keine Mehrheit finden liess.

Das muss man sich einmal vorstellen: Vier Monate dauert Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine schon an. Unermesslich ist das Leid, das er verursacht hat. Aber die für das Thema verantwortliche Behörde in Bern denkt nach wie vor nur an die Befindlichkeit der Rohstoffhändler in Genf, Lugano und Zug.

Nein, man muss gar nicht erst nach Moskau schauen, um zu lernen, was Zynismus wirklich ist.

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