Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Eine nutzlose und dumme Geste

Nach dem Nein zum EWR 1992 erlebte unser Land eine jahrelange Wirtschaftskrise. Der grosse Aufschwung kam mit den bilateralen Verträgen. Jene Abkommen, die der Bundesrat jetzt leichtfertig aufs Spiel setzt.
Publiziert: 30.05.2021 um 01:14 Uhr

Das Schwyzerörgeli arbeitet diatonisch. Das heisst, es gibt beim Ziehen und Drücken unterschiedliche Töne von sich. Wie das Nationalinstrument funktioniert bei uns auch die Aussenpolitik: Phasen überzogener Selbstwahrnehmung wechseln mit abrupten Stauchungen. Probleme werden ewig ignoriert oder schöngeredet, steigt der Druck aber allzu sehr, zeigt sich die Schweiz plötzlich ultraflexibel. Von einem Augenblick zum nächsten pfeift es ganz anders aus den gleichen Löchern.

Den letzten grossen Ruck im Europadossier gab es zur Jahrtausendwende. Nach dem Nein zum EWR hatte die Schweiz schwierige Zeiten durchgemacht. Europa blühte auf, unser Land jedoch schlitterte in die Rezession. Bundesbern setzte auf Deregulierung, schnürte Konjunkturpakete – und schickte seine Diplomaten, um in Brüssel einen besseren Zugang zum Marktplatz Europa zu erbitten. Dieses Ziel war der Schweiz weitreichende Zugeständnisse wert. Im Vergleich dazu, was die Schweiz in den bilateralen Verträgen zu geben bereit war, nehmen sich die Streitpunkte im nun gescheiterten Rahmenabkommen winzig aus. Der freie Personenverkehr war da nur eine Konzession von vielen.

Dank der bilateralen Verträge ging es wieder aufwärts. Ja, der Laden lief so gut, dass man die Bilateralen zum «Königsweg» erhob – ein seltsames Attribut in einem Staat, der stolz ist auf seine republikanische Tradition. Dies allein musste hellhörig machen. Und tatsächlich: Mit dem Erfolg kam die Überheblichkeit. Die Nonchalance, mit welcher der Bundesrat jetzt einen Schlussstrich unters Rahmenabkommen zieht, steht sinnbildlich für diese Selbst- und Geschichtsvergessenheit.

Als Grund Nummer eins für den Verhandlungsabbruch nannte Bundespräsident Guy Parmelin am Mittwoch die Unionsbürgerrichtlinie. Was deren Übernahme im Grundsatz bedeutet hätte, ist klar: Sie hätte EU-Bürgern den Zugang zu Sozialhilfe erleichtert. Bloss: Wie weit wären die Verpflichtungen gegangen? Bundesrat und Verwaltung haben sich mit dieser Frage bestenfalls oberflächlich beschäftigt. Ja, es existiert von offizieller Seite nicht einmal eine grobe Schätzung, welche Kosten da auf uns zugekommen wären.

Guy Parmelin erklärte dieses Versäumnis am Mittwoch wie folgt: Man habe sich beim Thema EU in der Vergangenheit oft verrechnet, Kalkulationen zur Unionsbürgerrichtlinie hätten deshalb schlicht keinen Sinn gemacht.

Pünktlich zum Ende des Rahmenvertrags ist dieser Tage das neuste Buch von Daniel Kahneman erschienen, wichtigster Psychologe unserer Zeit und Träger des Wirtschaftsnobelpreises. Der israelisch-amerikanische Forscher geht darin der Frage nach, warum sich Verantwortungsträger häufig irren. Er schreibt: «Entscheider hören gern auf ihren Bauch, und die meisten scheinen mit dem, was sie davon vernehmen, zufrieden zu sein. Was eine Frage aufwirft: Was genau bekommen diese Leute, die sowohl mit Autorität als auch mit hohem Selbstvertrauen gesegnet sind, von ihrem Bauch zu hören?» Die Antwort ist laut Kahneman «ein angenehmes Gefühl der Stimmigkeit» – wobei «dieses Gefühl oftmals dadurch verstärkt wird, dass man nicht dazu passende Daten versteckt oder ausklammert».

Der Beschluss unserer Regierung, das Rahmenabkommen in bewusster Unkenntnis der wichtigsten Kennziffern zu beerdigen, ist ein Paradebeispiel für ein solcherart verzerrtes Urteil.

Der Bundesrat belastet damit die Beziehungen zur EU. Er schadet der Schweiz als Standort für Forschung und Innovation, er erschüttert das Vertrauen der Wirtschaft in die Möglichkeiten unseres Landes.

Vielleicht löst sich ja alles irgendwann in Wohlgefallen auf. Zu befürchten freilich ist, dass es vorher gehörig Druck auf unser schönes Schwyzerörgeli geben wird. Dass sich dieses über kurz oder lang wieder so anhört wie in den 90er-Jahren, als Bundesbern verzweifelt mehr Nähe zur EU suchte.

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