Hyundais Aerodynamik-Wunder Ioniq 6 im Blick-Test
Elektrisch mit Stromlinie

Elektrofahrer brauchen manchmal starke Nerven. Im Falle des Hyundai Ioniq 6 aber nicht wegen der Reichweite oder der Ladezeiten, sondern weil sie ständig was zum Auto gefragt werden. Warum? Das zeigt der Blick-Test des exzentrischen Korea-Stromers.
Publiziert: 01.08.2023 um 16:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.08.2023 um 16:06 Uhr
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Andreas FaustLeitung Auto & Mobilität

Vor der Fahrt

«Cool!» sagen die einen, «was ist das denn?» die anderen: Schon Hyundais erster Neo-Stromer Ioniq 5 räumte radikal mit Grundregeln des Autodesigns auf, aber die Elektro-Limousine Ioniq 6 setzt mehr als nur einen drauf. Lieben oder leiden – dazwischen gibts nichts. Dabei hat Hyundais Design-Star und «Welt-Automensch des Jahres» SangYup Lee einfach vieles kombiniert, was es schon gab: Zum irgendwie Porsche-mässigen Heck gibts eine walartig gebuckelte Karosserie wie bei Jaguars Limousine Mark 2 von 1959.

Doch steht man neben dem Auto, merkt man: Lee hat mit viel Länge, langem Radstand, hochgewölbtem Dach und Aufwärts-Bogen in den Türen nur einen Crossover à la Kia EV6 zur Limousine verkleidet. Der Ioniq 6 ragt 1,50 Meter hoch auf – vier Zentimeter mehr als die neue Mercedes E-Klasse und nur zehn weniger als der ausgewachsene SUV Ioniq 5.

Auf der Strasse

Das erklärt dann auch, warum der Viertürer drinnen noch grösser als draussen wirkt. Kaum zu glauben, wie man so viel Kopfraum hinten aus einem so flachen Heck holen kann. Die Kniefreiheit im Fond würde gekrönten Häuptern taugen und auch vorne gibts nichts zu meckern. Aussen exzentrisch, aber im Cockpit gehts geradezu konventionell zu – mit breiter Mittelkonsole. Die zwei grossen Screens für Instrumente und Infotainment kennt man schon aus Schwestermodellen von Hyundai und Kia – hier wirken sie unaufgeregt statt futuristisch.

Diese Elektro-Limousine polarisiert: Bei Hyundais neuem Ioniq 6 gibts nur Begeisterung oder Bestürzung, so aussergewöhnlich ist das Design.
Foto: Zvg
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Auch der Antrieb mit 325 PS (239 kW) ist nichts Neues: Der hintere Motor schiebt mit 225 PS an; der an der Vorderachse hilft bei Bedarf mit weiteren 100 PS, zerrt aber nicht nervig an der Lenkung wie manche Fronttriebler-Stromer. Schon im Eco-Modus gehts mehr als ausreichend voran, in Sport drückts uns beim Vollgas-Start nachdrücklich in die Sitze.

Das war super

Elektroautos sind leise, aber der Ioniq 6 toppt die allermeisten – selbst die Pneus halten sich zurück. Toll auch die narrensichere Bedienung und Details wie das Kamerabild vom toten Winkel rechts oder links, das beim Abbiegen und Spurwechseln im Cockpit angezeigt wird und uns nie wieder Velofahrer übersehen lässt. Erst auf Langstrecken begreift man aber, warum der Ioniq 6 so aussieht, wie er aussieht: Weils den zweitbesten cW-Wert eines Serienautos mit 0,21 bringt.

Deshalb rollt der Stromer so nahe an seine Papier-Reichweite heran wie nur wenige andere. In der Schweiz schafften wir locker 520 Kilometer ohne, auf der deutschen Autobahn 600 Kilometer mit nur einmal Nachladen auf 100 Prozent – und hatten am Ziel noch 225 Kilometer Rest in der Batterie. Warum wir am Schnelllader statt wie empfohlen auf 80 gar auf 100 Prozent geladen haben? Weils dank 800-Volt-Technik und 233 Kilowatt Ladeleistung so schnell ging – schneller als die Mittagspause in der Raststätte. Im Schnitt lag der Ioniq 1,4 Kilowattstunden kWh über der Werksangabe von 15,1 kWh/100 km.

Das war schwach

Das Interieur mag ein Raumwunder sein – der Kofferraum ists nicht: Mit 401 Liter ist der nur 20 Liter grösser als der eines VW Golf, zerklüftet und uneben. Und ins 14,5-Liter-Fach unter der Fronthaube passt kaum das Ladekabel. Offenbar musste in den Türverkleidungen Platz gespart werden, weshalb die Fensterhebertasten auf der Mittelkonsole liegen – eher gewöhnungsbedürftig.

Die grossen Seitenspiegel können je nach Sitzposition ganze Schulbusse verdecken. Ausserdem wird bei jeder Gelegenheit gepiepst – irgendwas ist immer und irgendwann nerven all die Warnungen so sehr, dass man sie nicht mehr beachtet. Und wann lernt das Navi, Ladestopps in die Route einzurechnen?

Das bleibt

Der Glaube an die gute alte Windschlüpfigkeit, die gegenüber dem technisch gleichen Ioniq 5 beim 6er glatt 100 Kilometer mehr Reichweite herausholt. Die Bestätigung, dass ein komfortables Elektroauto eben doch kein bulliges SUV sein muss. Die Beruhigung, dass kein sechsstelliges Buget nötig ist, um einen Stromer mit Noblesse und Top-Effizienz zu fahren – 73'300 Franken reichen beim Testwagen. Und die Erleichterung nach dessen Rückgabe, weil endlich Schluss war mit den ständigen Fragen wildfremder Menschen: «Was ist das denn?»

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