«Sehr ernste Lage in Schweden»
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Regierungschef Kristersson:«Sehr ernste Lage in Schweden»

Schluss mit der Idylle – Ministerpräsident spricht von «sehr ernster Lage»
Was ist bloss in Schweden los?

Mehr Polizei, mehr Gefängnisse, neue AKW: Der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson versucht, die Fehler aus Vorjahren zu korrigieren. Blick zeigt, wo die neue schwedische Regierung anpacken muss.
Publiziert: 22.12.2022 um 20:58 Uhr
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Aktualisiert: 23.12.2022 um 09:32 Uhr
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Guido FelderAusland-Redaktor

Kaum ein anderer europäischer Staat hat sich in den vergangenen Jahren derart verändert wie Schweden. Vor Jahrzehnten war das nordische Land die Welt der fröhlichen Pippi Langstrumpf, der glamourösen Pop-Gruppe Abba und des harten Schwedenstahls.

Wie sich die Idylle doch verändert hat. Der seit zwei Monaten regierende konservative Ministerpräsident Ulf Kristersson (58) sprach in seiner ersten Weihnachtsansprache am Mittwoch alarmierende Worte: «Schweden befindet sich in einer sehr ernsten Lage.» Schon seine Vorgängerin, die sozialdemokratische Magdalena Andersson (55), hatte kurz vor ihrer Wahlniederlage wegen der massiven Gewalt gesagt: «Man erkennt Schweden gar nicht wieder.»

Was ist los in Schweden? Blick listet die sechs grössten Probleme der Skandinavier auf.

Ulf Kristersson ist seit zwei Monaten Ministerpräsident von Schweden.
Foto: IMAGO/TT
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Migration

Schweden führte über Jahrzehnte die liberalste Einwanderungspolitik Europas. Seit den 1960er-Jahren warb das Land für ausländische Arbeiter, die auch noch kamen, als der Aufschwung endete. 1975 erhielten Zuwanderer die gleichen Rechte wie Schweden, so auch vollen Zugang zum Sozialsystem. Sie durften sogar wählen, ob sie sich der schwedischen Kultur anpassen oder weiterhin die eigene praktizieren wollten. Ab 1984 galt ein unbefristetes Bleiberecht für Flüchtlinge.

Schweden im Vergleich zur Schweiz

• Fläche: 447'435 km² (Schweiz: 41'285 km²)
• Einwohner: 10,5 Millionen (Schweiz: 8,7 Millionen)
• BIP* pro Kopf: 60'029 Dollar (Schweiz: 93'457 Dollar)
• Sprache: Schwedisch (regional: Finnisch, Meänkieli, Samisch)
• Hauptstadt: Stockholm
• Nationalfeiertag: 6. Juni
• Währung: Schwedische Krone
• Mitgliedschaften: EU, Nato-Aufnahmekandidat

* Bruttoinlandprodukt nominal

• Fläche: 447'435 km² (Schweiz: 41'285 km²)
• Einwohner: 10,5 Millionen (Schweiz: 8,7 Millionen)
• BIP* pro Kopf: 60'029 Dollar (Schweiz: 93'457 Dollar)
• Sprache: Schwedisch (regional: Finnisch, Meänkieli, Samisch)
• Hauptstadt: Stockholm
• Nationalfeiertag: 6. Juni
• Währung: Schwedische Krone
• Mitgliedschaften: EU, Nato-Aufnahmekandidat

* Bruttoinlandprodukt nominal

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Die Türen wurden jedoch so weit geöffnet, dass eine Integration an vielen Orten scheiterte und sich in Vororten von Stockholm, Göteborg und Malmö – oft muslimische – Parallelgesellschaften bildeten. Im Dokumentarfilm «Der ewige Antisemit» (2017) von Henryk M. Broder (76) sagt der Rabbiner von Malmö, dass es für die meisten Juden wegen Drohungen und Gewalt keine Option mehr sei, ihre Kinder hier aufwachsen zu lassen.

Inzwischen hat die Regierung bei der Migration die Schraube angezogen. Sie will die Flüchtlingsquote von 6400 Personen pro Jahr auf 900 senken. Zudem dürfen Flüchtlinge nur noch befristet im Land bleiben.

2

Kriminalität

Bei Tötungsdelikten hält Schweden einen traurigen Rekord. Vom 1. Januar bis zum 15. Dezember 2022 wurden bei 378 Schiessereien 60 Menschen getötet und 104 verletzt. In Dänemark und Norwegen wurden in der gleichen Zeit je vier und in Finnland zwei Menschen getötet. In der Stadt Södertälje (70’000 Einwohner) wurden in diesem Jahr bereits so viele Menschen erschossen wie in ganz London (9 Millionen Einwohner).

Ministerpräsident Ulf Kristersson: «Es sind auch sehr junge Menschen, die töten und verletzen. Fast immer im Zusammenhang mit organisierten kriminellen Banden. Fast immer mit ausländischem Hintergrund.» Er verspricht mehr Polizei, mehr Gefängnisse und härtere Strafen.

3

Corona

In der Pandemie ging Schweden einen liberalen Sonderweg. Eine Untersuchungskommission kritisierte die Corona-Politik in einer Bilanz heftig, weil Schweden oft zu spät und zu wenig reagiert habe. Selbst König Carl XVI. Gustaf (76) sprach von einem «Versagen».

Kritik liess die Regierung nicht zu. Wer es wie etwa der schwedisch-irische Doppelbürger Keith Begg (48) dennoch wagte, wurde von Behörden und Medien als «Bedrohung für die Demokratie» betrachtet und mit Hasskommentaren und Drohungen überhäuft.

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Rechtsextremismus

In den vergangenen Jahren haben Rechtsextreme grossen Auftrieb erlebt. Immer wieder kommt es zu Angriffen von Neonazis auf Linke und Migranten.

Die rechte Partei «Schwedendemokraten» unter ihrem Vorsitzenden Jimmie Åkesson (43) hat angesichts der stark zugenommenen Gewalt in den Vororten und der verfehlten Integrationspolitik mit ihren ausländerfeindlichen Parolen bei den Wählern gepunktet. Die 1988 gegründete Partei wurde bei den Wahlen im September mit 20,5 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten. Sie verzichteten zwar auf eine Regierungsbeteiligung, geniessen aber grossen Einfluss.

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Energiekrise

Auch in Schweden steigen die Energiepreise an, die Inflation ist mit 11,5 Prozent im November gegenüber dem Vormonat so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Ministerpräsident Ulf Kristersson rechnet auch mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, die im Moment bei über sieben Prozent liegt.

Die neue Regierung hat angekündigt, nach der Stilllegung mehrerer Kernkraftwerke neue AKW mit neuer Technologie zu bauen. Auch auf erneuerbare Energien soll gesetzt werden. Selbst Klimaaktivistin Greta Thunberg (19) stellt sich nicht gegen solche Pläne.

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Äussere Bedrohung

Friedensförderung wurde in Schweden immer grossgeschrieben. Doch nach Zeiten der Entmilitarisierung wird nun wieder aufgerüstet und der Nato-Beitritt angestrebt. «Wir bauen unsere eigenen Verteidigungskapazitäten erheblich aus, um das Nato-Ziel von zwei Prozent des BIP bis 2026 zu erreichen», sagte Kristersson.

Die Angst vor Russland ist nach der Invasion in die Ukraine gewachsen. Kristersson: «Wir haben eine äussere Sicherheitskrise mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine als unmittelbare Gefahr.»

Welches ist die Lösung?

Warum hat Schweden derart Probleme? Anna Schaffner, Schweden-Expertin an der Uni Zürich, sagt gegenüber Blick: «Eine selbstkritische Erklärung, die ich in Schweden oft höre, ist, dass Schweden möglicherweise zu lange auf vielen Gebieten ‹Klassenbeste› hat sein wollen.»

Das sei sicher eine lobenswerte Haltung, mit der sich viele Schweden identifiziert hätten. Parallel dazu habe in den letzten Jahrzehnten eine umfassende Deregulierung der schwedischen Gesellschaft stattgefunden. «Dadurch hat sich vieles verändert. Angesichts der jetzigen Probleme wird vieles hinterfragt und nach neuen Wegen gesucht.»

Für die Lösung der Probleme gebe es verschiedene Lösungsansätze – je nach politischer Ansicht. Schaffner: «Die eine Seite sieht bei der Kriminalität die Lösung in härteren Massnahmen, mehr Polizei, härteren Strafen etc., die andere befürwortet mehr und bessere Ressourcen in den Schulen und im sozialen Bereich. Wahrscheinlich liegt die Lösung irgendwo dazwischen.»

Eine Lösung sei wohl nur langfristig möglich, meint Anna Schaffner. «Die jetzige Regierung wird es wohl einfacher haben als die vorherige, ihre Politik durchsetzen zu können; schliesslich hat sie dank den Schwedendemokraten die Mehrheit im Parlament. Ob ihr Rezept das richtige ist, wird sich zeigen.»

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