Auch die Schweiz zeigt sich solidarisch mit dem Iran
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Demonstrationen in Zürich:Auch die Schweiz zeigt sich solidarisch mit dem Iran

Nahost-Experte Erich Gysling über die Lage im Iran
«Kurzfristig wird das Regime nicht kapitulieren»

Die Demonstrationen im Iran gehen weiter. Droht eine Revolution und ein Sturz der konservativen Regierung? Nach Einschätzung des Schweizer Nahost-Experten Erich Gysling ist der Aufstand noch weit entfernt von einem Flächenbrand.
Publiziert: 27.09.2022 um 21:04 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2022 um 09:51 Uhr
Céline Trachsel

Im Iran gehen die Menschen seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini (†22) am 16. September auf die Strasse. Die Kurdin, die in Teheran wegen eines Verstosses gegen die Kleiderordnung verhaftet wurde und durch Polizeigewalt starb, wurde zum Gesicht des Aufstands. Auf den Strassen brennen seither die Schleier. Die Demonstranten werden vom Regime niedergeschlagen, es gibt bereits 76 Tote.

Droht nun eine Revolution im Iran? «Kurzfristig wird das iranische Regime nicht kapitulieren», sagt der Schweizer Nahost-Experte Erich Gysling (86) zu Blick. «Der Repressionsapparat ist zu gross und die Machtpyramide zu steil.»

Machtwechsel würde keine Veränderung bringen

Derzeit ist von mehreren 10'000 Demonstranten im ganzen Land auszugehen. «Aber wir sprechen von einem Staat mit 83 Millionen Einwohnern. Da bräuchte es schon mehr Aufständische für einen Regierungswechsel – es bräuchte Millionen!», sagt Gysling. Und selbst wenn Staatspräsident Ebrahim Raisi (61) seinen Posten verlöre, gäbe es über ihm noch den geistlichen Führer Ayatollah Khamenei (83) oder dessen Sohn, der als möglicher Nachfolger aufgebaut wird. Ein Machtwechsel würde kaum eine Veränderung bringen.

Iranische Frauen gingen am Montag in der Stadt Yazd wegen der getöteten Kurdin Mahsa Amini (†22) auf die Strasse.
Foto: AFP
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Die Demonstranten protestieren deshalb nur gegen die strengen Kleiderregeln – sie wollen die Sittenpolizei abschaffen. «Das Ziel der Demonstranten ist, dass die Kopftuchpflicht fällt. Aber das Kopftuch ist natürlich ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Parolen wie ‹Tod dem Diktator› gibt es nur in einzelnen Fällen», so Gysling.

Hardliner reaktivierte die Sittenpolizei

Das Problem: Die Sittenpolizei, die schon fast verschwunden war, tolerierte in den vergangenen 15 Jahren, dass das Kopftuch bei den Frauen Zentimeter für Zentimeter zurückrutschte. Als 2021 der konservative Hardliner Raisi an die Macht kam, wurde die Sittenpolizei jedoch reaktiviert. Gysling: «Er ermutigt sie, mit Härte gegen Frauen vorzugehen und die paar Zentimeter Haare nicht mehr zu akzeptieren.»

Die iranische Gesellschaft sei im privaten Raum dagegen nicht besonders religiös. Heute trügen mehr junge Frauen das deutlich lockerere Kopftuch als den traditionellen Tschador. «Zu Hause sind die Regeln noch weniger streng. Die Frau hat im Familienalltag eine gute Stellung. Aber sollte sie sich scheiden lassen wollen, dann sieht sie, wie sehr sie durchs Gesetz eben doch benachteiligt wird. Dennoch kann man sagen: Im Vergleich zu anderen Ländern im Mittleren Osten sind die Frauen im Iran besser dran», so Gysling. Die Iranerinnen dürfen Auto fahren und sie belegen 60 Prozent der Studienplätze. Im Berufsalltag bekleiden sie dagegen kaum hohe Positionen.

Staatspräsident telefonierte mit Eltern der getöteten Frau

Dass die Proteste zu diesem Zeitpunkt aufflammten, sei kein Zufall, sagt Gysling. «Frauen werden wegen der verschärften Hijab-Regeln willkürlich ermahnt, verhaftet oder öffentlich geohrfeigt. Das wollen sie sich nicht mehr gefallen lassen.»

Raisi hat immerhin mit den Eltern der getöteten Mahsa Amini telefoniert. «Aber das war reine Etikette», so Gysling. «Auf jeden Fall hat er seinen Sittenpolizisten nicht gesagt, sie sollen sich zurückhalten. Im Gegenteil: Bewaffnete Polizisten werden mit immer grösserer Härte gegen den Aufstand vorgehen – erst recht, wenn er weiter zunimmt.»

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