Militär-Experte Alexander Bollfrass fällt vernichtendes Urteil
Wäre Europa ohne USA im Ukraine-Krieg verloren?

Europa war nicht gut genug auf den Krieg vorbereitet. Die Gründe dafür sind vielfältig – und haben trotzdem einen gemeinsamen Ursprung: Den Unwillen der europäischen Politik, proaktiv zu handeln.
Publiziert: 09.12.2022 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 09.12.2022 um 07:47 Uhr
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

«Ich muss sehr ehrlich sein, brutal ehrlich mit Ihnen, Europa ist im Moment nicht stark genug.» Mit diesen Worten wandte sich Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin (37) vergangene Woche in Sydney an die Öffentlichkeit. «Ohne die USA wären wir jetzt in Schwierigkeiten.»

Ein Urteil über die europäische Verteidigungspolitik, das der ETH-Militärexperte Alexander Bollfrass (38) im Gespräch mit Blick bestätigt. «Europa hat weder die Fähigkeit, noch die Bereitschaft gezeigt, sich gegen die russischen Aggressionen zu wehren. Jahrzehntelang wurden amerikanische Forderungen, sich angemessen auszurüsten, ignoriert – und jetzt haben wir ein Problem.»

Europas Verteidigung schwächelt auf voller Linie. Hier trainieren deutsche Soldaten mit einer Panzerhaubitze in Münster.
Foto: imago/photothek
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1986 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Friedensjahr erklärt. Hier begann – nach Jahren massiver Aufrüstung und bedrohlicher Konfrontationen zwischen den damaligen Blöcken USA und Sowjetunion – die Abrüstung. Euphorie und der Traum eines in Frieden lebenden Europas beherrschten die internationale Politik. Oder in den Worten von Bollfrass: «Seit dem Ende des Kalten Krieges haben viele Europäer einem Fantasiepazifismus gefrönt.»

Die europäische Macht- und Tatlosigkeit lässt sich überspitzt an Deutschland illustrieren, so der Experte. Abgesehen von Deutschlands Angewohnheit, sich moralisch überlegen zu fühlen und dem Beharren darauf, Moskau besser zu verstehen als der Rest der Welt, sei es laut Bollfrass «ziemlich repräsentativ für ein westeuropäisches Land, das den Bezug zur Realität verloren hat». Deutschland ist damit allerdings nicht allein, für die meisten anderen europäischen Ländern gilt das ebenso.

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Abrüstung hat Europa in bedrohliche Lage gebracht

In den vergangenen 20 Jahren sind die Verteidigungsausgaben der EU nur um 20 Prozent gestiegen, verglichen mit 66 Prozent der Vereinigten Staaten, fast 300 Prozent Russlands und 600 Prozent Chinas. EU-Chefdiplomat Josep Borrell (75) fordert am Donnerstag, den Verteidigungsetat der Union bis 2025 um mehr als 30 Prozent auf 70 Milliarden Euro zu erhöhen. Obwohl seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs kräftig aufgerüstet wird, scheint es ein hochgestecktes Ziel zu sein.

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Laut Zahlen der deutschen Bundeswehr aus dem Oktober würde die Munition im Ernstfall nur für zwei Tage ausreichen. Nach Nato-Vorgaben soll Munition aber mindestens für einen Monat reichen. Um diese Standards zu erreichen, bräuchte allein Deutschland 20 Milliarden Euro.

Es war zwar vernünftig, die Verteidigungsausgaben und die Waffen- und Munitionsbestände zwischenzeitlich zu senken und die Streitkräfte zu verkleinern, so Bollfrass. Eine Sache war hingegen falsch: «Die gedankliche Abrüstung, die die europäischen Regierungen unfähig und unwillig machte, die wachsende Gefahr aus Moskau zu erkennen.» Zudem sei auch das europäische Volk «kriegsfaul» geworden.

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«Nicht alle europäischen Länder sind von dieser vorsätzlichen Blindheit gegenüber Russland befallen»
Alexander Bollfrass, ETH-Militärexperte
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In Europa wird die Bereitschaft der Europäer, für den Erhalt ihrer Werte wie Menschenrechte, Demokratie und nationale Souveränität einen Preis zu zahlen, nun wieder auf den Prüfstand gestellt. Umso entscheidender also die Unterstützung aus den USA. Denn eine Lösung unabhängig von den USA, also von der Nato, zu finden, ist aktuell weder möglich – noch nötig, findet der Militärexperte. «Sie ist das beste verfügbare Forum für Europa, um Verantwortung für seine eigene Sicherheit zu übernehmen, indem es eigene Vorschläge entwickelt und diskutiert und diese mit ernsthaften Investitionen in militärische Kapazitäten untermauert.»

Dabei wichtig? Osteuropäische Nationen und deren Bedenken anzuhören. Denn: «Nicht alle europäischen Länder sind von dieser vorsätzlichen Blindheit gegenüber Russland befallen.» Während die USA und Europa laut Bollfrass nicht ausreichend darauf vorbereitet waren, «den grössten Krieg auf dem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg» zu führen, waren Nationen im Grossen und Ganzen umso besser vorbereitet, je näher ihre Grenze zu Russland liegt. Auch Sanna Marin räumt ein: «Wir hätten viel früher auf unsere baltischen und polnischen Freunde hören sollen.»

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