Die Schweiz ist auf dem linken Auge blind
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Linksextremismus unterschätzt:Die Schweiz ist auf dem linken Auge blind

Historiker Klaus Schroeder beobachtet eine Radikalisierung bei den Autonomen
«Linksextreme verlieren die Skrupel»

Der gewalttätige Linksextremismus ist europaweit auf dem Vormarsch. Klaus Schroeder ist einer der wenigen Forscher, die sich intensiv mit linker Gewalt auseinandersetzt. Im Blick-Interview erklärt er, warum man kaum darüber spricht und welche Rolle die Schweiz spielt.
Publiziert: 30.04.2021 um 07:07 Uhr
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Aktualisiert: 01.05.2021 um 19:52 Uhr
Interview: Guido Felder

In Basel hetzen Linksextreme gegen eine Mitarbeiterin des Bundesasylzentrums: Sie wird bedroht, ihrer Familien-Katze wurde das Fell teilweise abgezogen, am Auto wurden manipulierte Bremsen festgestellt.

Während Rechtsextremismus in allen Schattierungen beleuchtet und verurteilt wird, ist der Linksextremismus zur Blackbox mutiert. Der Deutsche Klaus Schroeder (71) ist einer der wenigen Forscher, die sich intensiv mit dem Thema befassen.

Herr Schroeder, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie von diesen gewalttätigen Linksextremen in Basel hören?
Klaus Schroeder: Es geht auch hier um die Selbstermächtigung der Linksextremen, sich über den Rechtsstaat hinwegzusetzen und selber zur Tat zu schreiten.

Aussergewöhnlich brutal gingen die Linksextremisten 2017 am G20-Gipfel in Hamburg vor.
Foto: Getty Images
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Wie gross ist das Problem des Linksextremismus tatsächlich?
Es ist von der Masse her kein Problem. Wir haben einige Zehntausend in Deutschland, in der Schweiz sind es deutlich weniger. Das Problem ist das Qualitative. Der harte Kern hat sich in den vergangenen zwei, drei Jahren weiter radikalisiert. Früher gingen sie auf Polizisten und Rechte los, heute suchen sie gezielt auch Privatleute in deren Wohnung auf.

Gibt es auch in Deutschland Fälle wie in Basel?
In Leipzig wurde vor kurzem eine Angestellte einer Immobilienfirma in ihrer Wohnung aufgesucht. Die Täter schlugen ihr ins Gesicht und liessen sich anschliessend auf Indymedia sogar dafür feiern.

Kenner der Extreme

Klaus Schroeder (71) ist Zeithistoriker an der Freien Universität Berlin und befasst sich mit der deutschen Teilungsgeschichte sowie dem Links- und Rechtsextremismus. Er ist Autor des im Herder-Verlag erschienenen Buchs «Der Kampf ist nicht zu Ende: Geschichte und Aktualität linker Gewalt».

Klaus Schroeder (71) ist Zeithistoriker an der Freien Universität Berlin und befasst sich mit der deutschen Teilungsgeschichte sowie dem Links- und Rechtsextremismus. Er ist Autor des im Herder-Verlag erschienenen Buchs «Der Kampf ist nicht zu Ende: Geschichte und Aktualität linker Gewalt».

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Warum hat diese linke Gewalt so zugenommen?
Wohl wegen der Erfolglosigkeit. Politisch haben sie im Kampf gegen den Staat überhaupt nichts erreicht. Es herrscht aber innerhalb der Extremisten Streit darüber, wie weit die Gewalt gehen soll. Es gibt den Schwarzen Block, der sagt, dass man ohne Gewalt nichts erreiche, und es gibt die etwas Gemässigteren, die Angst davor haben, dass zu viel Gewalt die Leute beim Mitmachen abschreckt.

Wie weit spielt die aufkommende Klimajugend eine Rolle?
Bei Fridays for Future hat die Interventionistische Linke versucht, Fuss zu fassen und die Organisation zu radikalisieren. Sie hängen sich auch an den Protest gegen den Autobahnausbau im Dannenröder Forst. Wegen Corona ist diese Tendenz aber abgeflacht.

Wie viele Linksextremisten gibt es in Europa?
Es kommt darauf an, wie man Linksextremismus definiert. Früher sprach man von gewaltbereiten Linken, heute von gewaltorientierten. Allein durch den Wechsel der Definition kommt man in Europa auf vielleicht hunderttausend.

Welche Rolle spielen die Schweizer Linksextremen international?
Sie schwimmen mit, aber spielen keine dominierende Rolle. So nahmen 2017 viele an den schweren Ausschreitungen während des G20-Gipfels in Hamburg teil. Tonangebend sind die Italiener, Spanier und Griechen. Bei der Eröffnung der Europäischen Zentralbank 2015 haben sie in Frankfurt ein ganzes Viertel plattgemacht.

Wie sind sie europäisch organisiert?
Es ist ein loses Netzwerk von gewaltbereiten Extremisten, wo auch Schweizer beteiligt sind. Sie operieren verdeckt. Ob der Verfassungsschutz darüber die Kontrolle hat, weiss ich nicht.

Wie und wo entwickelt sich der Linksextremismus? Was ist guter Nährboden?
Er wächst komischerweise nicht da, wo er es selber erwartet, nämlich in einer wirtschaftlich schlechten Umgebung. Vielmehr ist es ein Wohlstandsphänomen. Viele Linksextremisten kommen aus der Mittelschicht.

Das bedeutet, dass viele nicht aus Überzeugung mitmachen, sondern der Krawall im Vordergrund steht.
Unter den Linksextremisten gibt es einen harten Kern, dem es mehr um Gewalt als um Inhalte geht. Es gibt aggressive Jugendliche, die in der Gesellschaft als Aussenseiter gelten, aber in der radikalen Szene zu Helden werden. In ostdeutschen Städten ist diese Szene eher rechtsradikal, im Westen eher linksradikal.

Gibt es versteckten Linksextremismus im Alltag?
Ich würde unterscheiden von Linksextremisten, die alles verändern wollen, und Linksradikalen, die gerade noch am äussersten Rand des Verfassungsbogens agieren. Bei Lehrern und Sozialarbeitern gibt es viele mit einer linksradikalen Einstellung – auch bei Journalisten.

Warum wird so wenig über Linksextremismus gesprochen?
Das ist ein Phänomen, das ich seit Jahren beobachte. Viele meinen, dass es um eine gute Sache geht und man, wenn die Jungen wieder mal über die Stränge hauen, ein Auge zudrücken müsse. Das würde man auf der rechten Seite nie akzeptieren. In Deutschland haben wir 40 bis 50 Prozent mehr linke Gewalttaten als rechte.

Selbst in Parlamenten vertretene linke Politiker applaudieren immer wieder, wenn rechte Politiker angegriffen werden oder bei Demonstrationen Sachschaden entsteht. Distanzieren sich linke Parteien zu wenig stark vom Extremismus?
Ja, sie distanzieren sich nicht vom Extremismus, und schon gar nicht von der Gewalt. In Deutschland machen sogar Teile der Grünen Jugend und der Juso gemeinsame Sache mit Linksextremisten.

Wie kann man das justieren?
Viele haben Angst, darüber zu reden. Es beschäftigen sich auch nur wenige damit, weil sie Angst haben, dass sie dann auch «besucht» würden. Man kann dem Linksextremismus nur begegnen, wenn die gemässigte und die radikale Linke sich glasklar von ihm distanzieren und sich abwenden. Wenn liberale oder konservative Politiker etwas sagen, nützt das nichts – im Gegenteil.

Wie wird sich der zunehmende Linksextremismus weiterentwickeln? Muss man mit Terroranschlägen rechnen?
Wir haben ja schon Anschläge auf Bahnstrecken und Baukräne. Die Linksextremen verlieren langsam die Skrupel. Es gibt einen harten Kern, der zu terroristischen Aktionen bereit wäre – nicht unbedingt im Sinne der Roten Armee Fraktion, sondern eher im Sinne der revolutionären Zellen, die man ja auch «Feierabend-Terroristen» nannte. Sie sprechen inzwischen auch nicht mehr von Gewalt, sondern von Riots. Sie tun so, als ob ein Bürgerkrieg bevorsteht.

Wie kommt man aus der linksextremen Szene heraus?
Natürlich gibt es Anlaufstellen. Meistens lösen sich die Leute aber selber von der Szene, wenn sie älter werden, einen Beruf haben und eine Familie gründen. Die Alt-Autonomen sind dann zwar noch Sympathisanten und preisen sich als Helden, aber sie fighten nicht mehr mit.

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