Die Schweiz ist auf dem linken Auge blind
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Linksextremismus unterschätzt:Die Schweiz ist auf dem linken Auge blind

Linksextreme Gewalt – die Szene radikalisiert sich, die Gefahr wird unterschätzt
Die Schweiz ist auf dem linken Auge blind

Der Angriff auf eine Mitarbeiterin des Basler Bundesasylzentrums durch Linksextreme zeigt: Die Szene nimmt Verletzte oder sogar Tote in Kauf. Extremismus-Experte Samuel Althof (65) vergleicht die Linksaktivisten mit einer Sekte.
Publiziert: 29.04.2021 um 00:43 Uhr
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Aktualisiert: 05.05.2021 um 10:55 Uhr
Michael Sahli und Helena Schmid

Linksextreme machen Jagd auf Mitarbeiter des Basler Bundesasylzentrums Bässlergut. Um angebliche Missstände in der Einrichtung anzuprangern, werden beim Personal Verletzte oder sogar Tote in Kauf genommen: Beim Familienauto einer Mitarbeiterin (38), die auch in der Lokalpolitik aktiv ist, wurden die Bremsleitungen manipuliert (Blick berichtete). Zuvor fand sie ihre verstümmelte Katze vor der Haustüre – und wurde monatelang mit Drohungen und Hassnachrichten terrorisiert. Extremismus-Experte Samuel Althof (65) beobachtet die Radikalisierung der linksextremen Szene seit Jahren. Ihn überrascht die neuerliche Eskalation nicht.

Althof vergleicht die Szene mit einer Sekte: «Diese Leute leben in ihrer eigenen Blase.» Und weiter: «Sie sehen die Menschen, die sie angreifen, nur noch als Teil des Systems, das sie bekämpfen.» Dadurch sei die Hemmschwelle tiefer: «Das Opfer wird gar nicht mehr als Mensch gesehen, so entsteht ein enorm hohes Gewaltpotenzial.»

Krude Gedankenwelten

Die Einschätzung teilt auch Adrian Oertli (41), der früher selbst Pflastersteine schmiss – und den Ausstieg aus dem Linksextremismus schaffte: «Die Szene war damals meine Familie. Das ist typisch für sektenähnliche Strukturen.»

Linksextreme kämpfen seit Jahren gegen das Bässlergut. Zuerst gegen den Neubau des Gefängnisses, danach gegen angebliche Gewalt an Asylsuchenden.
Foto: barrikade.info
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Dass Teile der Gruppierung nicht viel Respekt vor dem Leben haben, musste auch Oertli in seiner aktiven Zeit feststellen. «Bei einer kleinen Minderheit herrscht die Grundlogik: Bevor man von einem Richter verurteilt wird, müsse man ihn umbringen.» Diese fast mafiöse Denkweise sehe man auch an der verstümmelten Katze der Bundesasylzentrums-Mitarbeiterin.

In Basel muss man mittlerweile von einer ganzen Anschlagserie sprechen. Die Staatsanwaltschaft führt im Zusammenhang mit dem betroffenen Asylzentrum in Basel rund 70 Verfahren. Firmen, die mit dem Ausbau des Gefängnisses zu tun hatten, wurden Opfer von Brandanschlägen.

Internet-Pranger auf eigenem Hetz-Portal

Aber auch Securitas-Mitarbeiter, die im Zentrum arbeiten, werden im Internet mit Name, Wohnort und Foto angeprangert. Auf der gleichen Plattform wie auch schon die attackierte Asyl-Betreuerin. «Fährt ein BMW-Motorrad», steht da etwa neben dem Foto eines Securitas-Mannes. Und als Warnhinweis: «Er könnte bewaffnet sein.» Bei Securitas heisst es dazu: «Angriffen gegenüber Mitarbeitenden, Einrichtungen oder Fahrzeugen unseres Unternehmens begegnen wir konsequent und mit den uns legal zur Verfügung stehenden Mitteln.»

Samuel Althof sagt, die Gefahr durch die linksextreme Szene werde in der Öffentlichkeit im Vergleich mit Rechtsextremen unterschätzt. Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Der Nachrichtendienst des Bundes verzeichnete in seinem aktuellsten Bericht für das Jahr 2019 insgesamt 207 «linksextreme Ereignisse», dagegen standen 29 «rechtsextreme Ereignisse». Althof geht von einem harten Kern von 500 bis 800 gewaltbereiten Linksextremen schweizweit aus.

Attacken keine Seltenheit

Auch bereits früher habe es linksextreme Angriffe gegeben, die tödlich hätten enden können: «2011 wurde zum Beispiel das Auto von SVP-Werber Alexander Segert so angezündet, dass die Flammen nur mit Glück nicht auf sein Haus übergriffen.» Spätestens seit 2016 kursiere in der Szene auch eine Feindesliste, etwa mit Angaben zu Polizisten, so Althof. Eine Patentlösung, um dem Treiben ein Ende zu setzen, gibt es nicht, so der Extremismus-Experte: «Wichtig ist, dass die Justiz schnell und griffig reagiert.»

Darauf hofft wohl auch die Frau, deren Bremsleitungen manipuliert wurden. Das Staatssekretariat für Migration hat für sie die Bundesanwaltschaft eingeschaltet. Gegenüber Blick sagt die Behörde über die betroffene Mitarbeiterin: «Es geht ihr – trotz der seit Monaten belastenden Situation – den Umständen entsprechend gut. Sie geht ihrer gewohnten Arbeit nach.»

Rechtsextreme nicht unterschätzen

Auch wenn der Nachrichtendienst des Bundes den Linksextremismus in der Schweiz als grösseres Problem betrachtet: Immer wieder werden auch rechtsextreme Vorfälle gemeldet. Im Jahr 2019 waren es 29, im Jahr davor sogar 53. Oft seien diese spontaner und weniger geplant als im linksextremen Spektrum, sagt Extremismus-Experte Samuel Althof (65). Aber: Man dürfe auch die Rechtsextremen nicht unterschätzen.

Letzten Sommer geriet etwa die Winterthurer «Eisenjugend» in den Fokus der Ermittler. Mehrere junge Männer wurden verhaftet, auch Waffen wurden beschlagnahmt. Die Gruppe fantasiert von einem Rassenkrieg, fiel aber offenbar lange nicht auf. Einer der Männer studierte unbehelligt an der Zürcher Hochschule der Künste, wurde nach Bekanntwerden der Vorfälle aber exmatrikuliert.

Dass auch die Rechtsextremen bestens vernetzt sind, zeigte spätestens das Neonazi-Konzert in Unterwasser SG im Herbst 2016: 5000 Rechtsextreme aus ganz Europa trafen sich dort – und überrumpelten Polizei und Öffentlichkeit.

Und: Seit dem Aufkommen der Corona-Pandemie verbreitet sich rechtsextremes Gedankengut auch vermehrt auf den Telegram-Kanälen so mancher Corona-Skeptiker. Michael Sahli

Auch wenn der Nachrichtendienst des Bundes den Linksextremismus in der Schweiz als grösseres Problem betrachtet: Immer wieder werden auch rechtsextreme Vorfälle gemeldet. Im Jahr 2019 waren es 29, im Jahr davor sogar 53. Oft seien diese spontaner und weniger geplant als im linksextremen Spektrum, sagt Extremismus-Experte Samuel Althof (65). Aber: Man dürfe auch die Rechtsextremen nicht unterschätzen.

Letzten Sommer geriet etwa die Winterthurer «Eisenjugend» in den Fokus der Ermittler. Mehrere junge Männer wurden verhaftet, auch Waffen wurden beschlagnahmt. Die Gruppe fantasiert von einem Rassenkrieg, fiel aber offenbar lange nicht auf. Einer der Männer studierte unbehelligt an der Zürcher Hochschule der Künste, wurde nach Bekanntwerden der Vorfälle aber exmatrikuliert.

Dass auch die Rechtsextremen bestens vernetzt sind, zeigte spätestens das Neonazi-Konzert in Unterwasser SG im Herbst 2016: 5000 Rechtsextreme aus ganz Europa trafen sich dort – und überrumpelten Polizei und Öffentlichkeit.

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