SBB versäumt Barrierefreiheit – Betroffene erzählen
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«Aufgabe nicht gemacht»:SBB versäumt Barrierefreiheit – Betroffene erzählen

SBB und Barrierefreiheit – Behinderte fühlen sich im Stich gelassen
«Spontane Zugfahrten sind im Rollstuhl nicht möglich»

Die SBB hinken bei der Umsetzung der Barrierefreiheit an Bahnhöfen hinterher. Blick hat mit vier Betroffenen gesprochen, die jeden Tag mit Hindernissen im ÖV zu kämpfen haben.
Publiziert: 14.12.2022 um 12:52 Uhr
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Aktualisiert: 15.12.2022 um 06:21 Uhr
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Milena KälinRedaktorin Wirtschaft

Simone Leuenberger (47) ist Gymi-Lehrerin in Thun BE und sitzt wegen einer Muskelkrankheit im Rollstuhl. Für einen Ausflug plant sie ihre Schülerinnen und Schüler am Bahnhof Thun abzuholen. Bei den SBB hat sie Unterstützung beantragt. So weit so gut, berichtet Leuenberger. Jemand von der SBB hilft ihr in Bern in den Zug und jemand in Thun wieder hinaus.

Aber dann in Thun folgt der Schock: Das Perron ist zu kurz. Der letzte Wagen, in dem Leuenberger sitzt, steht noch im Schotter. «Ich musste zurück nach Spiez fahren, dort eine halbe Stunde warten und dann wieder zurück nach Thun», berichtet sie Blick. Die Schülerschaft blieb auf dem Perron stehen. Der Zeitplan für die Exkursion war dahin.

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«Wer will schon jemanden einstellen, der wegen der fehlenden Barrierefreiheit seinen Berufsauftrag nicht wahrnehmen kann.»
Simone Leuenberger
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Leuenberger erlebt ständig solche Vorfälle. Und das nicht nur in Bern. «Ich muss viel mehr Zeit und Planung in eine Zugreise investieren», sagt sie. Dies ist auch im Berufsalltag ein Problem. «Wer will schon jemanden einstellen, der wegen fehlender Barrierefreiheit seinen Berufsauftrag nicht wahrnehmen kann», sagt Leuenberger.

Die SBB wird bis Ende 2023 nicht alle Bahnhöfe barrierefrei umbauen können.
Foto: STEFAN BOHRER
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Alles braucht mehr Zeit

Wenn Leuenberger mit dem Zug reist, muss sie praktisch immer eine Stunde im Voraus Hilfe bei den SBB beantragen. Aktuell sind über 300 Bahnhöfe nicht zugänglich für Menschen im Rollstuhl, wie am Mittwoch bekannt wurde. «Spontanes Reisen ist nicht möglich», weiss Leuenberger aus ihrem Alltag.

Dabei haben sich die SBB verpflichtet, bis Ende 2023 alle Bahnhöfe barrierefrei zugänglich zu machen. Menschen mit einer Behinderung sollen sich möglichst autonom fortbewegen können. Barrierefreiheit nützt auch anderen Kundengruppen wie etwa Reisenden mit schweren Koffern.

Dieses Ziel wird die SBB nicht erreichen. Ab 2024 werden drei Viertel der Reisenden das Angebot der SBB barrierefrei nutzen können.

«Kann nur Hälfte des SBB-Angebots nutzen»

Das heisst, ein Viertel kann es nach wie vor nicht. Dazu gehört auch Raphaël de Riedmatten (52). Der Lausanner ist Geschäftsleiter von Agile, einer Organisation, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt. Er pendelt für seine Arbeit von Lausanne nach Bern.

De Riedmatten lebt mit einer Gehbehinderung. Er ist auf Lifte angewiesen, da Rampen nur sehr mühsam für ihn zu bewältigen sind. Bereits eine Schwelle kann zum Problem werden. Er könnte umfallen. Den Zug nutzt er seit 32 Jahren. «Ich zahle den vollen Preis für ein GA, kann aber mittlerweile nur noch die Hälfte des Angebots nutzen», sagt er.

Will de Riedmatten spontan irgendwo hin, ist dies kaum möglich. «Wenn ich nach Basel will, habe ich nur alle fünf bis sechs Stunden eine barrierefreie Verbindung», erklärt er. Die Informationen aus der SBB-App reichen nicht aus. Erst beim Einfahren des Zugs sieht er, welche Waggons ohne Stufen zugänglich sind.

Während im Regionalverkehr fast alle Züge barrierefrei sind, liegt das Problem im Fernverkehr. Pro Richtung fährt im Fernverkehr meist mindestens ein barrierefreier Zug pro Stunde. Der Haken: Viele der Verbindungen sind nur mit Hilfe benutzbar.

Wie barrierefrei ist die SBB online?

Im März 2019 wurde die Website der SBB von der Stiftung «Zugang für alle» zertifiziert. Viele Inhalte sind also barrierefrei zugänglich.

«Wo wir Lücken schliessen müssen, sind wir mit Hochdruck dran», sagt Andrés Doménech Nothhelfer (54), der bei der SBB zuständig für die Umsetzung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes (BehiG) ist. Einige Bereiche seien noch nicht barrierefrei zugänglich, wie beispielsweise das Snow'n'Rail-Angebot.

René Jaun (41), für den die Barrierefreiheit als blinder Mensch besonders wichtig ist, findet sich online und auf der App «SBB Inclusive» gut zurecht. Die App lancierte die SBB speziell für Menschen mit Behinderung.

Dank der App erfährt Jaun, in welchen Zug er gerade einsteigt. «Die App kommuniziert via Bluetooth mit dem Zug. In manchen Zügen funktioniert das super, teilweise aber noch gar nicht», sagt Jaun.

Im März 2019 wurde die Website der SBB von der Stiftung «Zugang für alle» zertifiziert. Viele Inhalte sind also barrierefrei zugänglich.

«Wo wir Lücken schliessen müssen, sind wir mit Hochdruck dran», sagt Andrés Doménech Nothhelfer (54), der bei der SBB zuständig für die Umsetzung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes (BehiG) ist. Einige Bereiche seien noch nicht barrierefrei zugänglich, wie beispielsweise das Snow'n'Rail-Angebot.

René Jaun (41), für den die Barrierefreiheit als blinder Mensch besonders wichtig ist, findet sich online und auf der App «SBB Inclusive» gut zurecht. Die App lancierte die SBB speziell für Menschen mit Behinderung.

Dank der App erfährt Jaun, in welchen Zug er gerade einsteigt. «Die App kommuniziert via Bluetooth mit dem Zug. In manchen Zügen funktioniert das super, teilweise aber noch gar nicht», sagt Jaun.

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Im SBB-Fahrplan online heisst es neben einem kleinen Rollstuhlsymbol entweder «Ein-/Ausstieg mit Voranmeldung möglich» oder «Selbstein-/ausstieg möglich». Für Anita Wymann (42) ist diese Information essenziell. Sie lebt mit Multipler Sklerose und nutzt seit zwei Jahren einen Rollstuhl. Die Bernerin findet, die SBB habe die Umsetzung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes versäumt.

Rampen zu steil

Für ihren Arbeitsweg kann Wymann den Bahnhof Bern zum Glück meiden. Denn die Rampen auf das Perron würde sie mit eigener Muskelkraft nicht bewältigen können. Und dabei setzen die SBB tatsächlich mehr auf Rampen als auf Lifte. Diese könnten ausfallen.

Die Neigungsgrenze für Rampen an Personenunter- und Überführungen liegen bei der SBB bei 12 Prozent. Wenn möglich, werden Rampen mit 10-prozentiger Neigung gebaut. Auch SBB-Leiter Andrès Doménech Nothhelfer (54) hat bereits probiert, mit einem Rollstuhl eine Rampe hochzukommen. «Schon eine lange 6 oder eine 10 Prozent Steigung ist für Profisportler eine Herausforderung», sagt er. Das heisst, den SBB ist das Problem bewusst. Aus Platz- und Kostengründen werden aber kaum flachere Rampen gebaut.

Immerhin: In den letzten Jahren hat die SBB ihre Bestrebungen verschärft. «Für Blinde gibt es viel mehr Features wie taktile Leitlinien und akustische Ansagen», sagt René Jaun (41). Der Technologie-Journalist pendelt für seinen Job regelmässig von Bern nach Zürich und ist seit seinem 16. Lebensjahr komplett blind.

Keine Geduld mehr

Trotz Verbesserungen hat auch Jaun mit Problemen zu kämpfen. Vor allem spontane Veränderungen wie Zugausfälle und Gleisänderungen bereiten ihm Mühe. «Noch zu oft bleiben Blinde auf dem Perron stehen, weil die Kommunikation nicht barrierefrei erfolgt», sagt Jaun. Bei kleineren Bahnhöfen seien taktile Leitlinien zudem selten zu finden. Die Geduld geht Jaun langsam aus.

Seit 19 Jahren arbeiten die SBB bereits an der Umsetzung der Barrierefreiheit. «Ich würde mir wünschen, dass die SBB Menschen mit Behinderung als wichtige Konsumentengruppe ansehen und auf ihre Anliegen eingehen», sagt Jaun.

Ähnlich sieht es bei den weiteren Betroffenen aus. Sie alle haben die Nase voll von Ausreden und fühlen sich im Stich gelassen. «Ich wünsche mir, dass die SBB ihre Verpflichtung besser wahrnimmt. Es ist eine Frage des Willens und der Planung», sagt de Riedmatten. Barrierefreiheit hilft nämlich nicht nur Menschen mit Behinderungen. Sie hilft auch Menschen mit Krücken, Eltern mit Kinderwagen und Reisenden mit schweren Koffern.

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