Extrem niedrige Löhne in der Kritik
Behinderte arbeiten für einen Rappen pro Stunde

In betreuten Werkstätten können Menschen mit Behinderungen einer Arbeit nachgehen. Oftmals erhalten sie dafür jedoch sehr niedrige Löhne. Ist das gerecht?
Publiziert: 01.12.2022 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 01.12.2022 um 09:52 Uhr
Sara Belgeri

Brändi-Dog-Spiele, Karo-Holzspielwaren oder Werky-Kerzen haben eines gemeinsam: Sie werden von Menschen mit Behinderung gefertigt – ebenso wie Handseife, WC-Papier oder Putzmittel. In betreuten Werkstätten können behinderte Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, die ihren Fähigkeiten entspricht.

Oft erledigen diese Werkstätten Aufträge, die von normalen Unternehmen in der Schweiz kaum kostendeckend zum selben Preis ausgeführt werden könnten. Das hat mit spezieller Förderung, aber auch mit den niedrigen Löhnen zu tun. Laut einem Bericht aus dem Jahr 2019 liegt der tiefste Stundenlohn in solchen Werkstätten nämlich bei einem Rappen! Die Hälfte aller Betriebe zahlt weniger als zehn Franken pro Stunde – das ist rund dreimal weniger als der Durchschnittsstundenlohn.

Deutschland diskutiert über Mindestlohn

Einen Mindestlohn für Arbeitnehmer in betreuten Werkstätten gibt es nicht. Und er ist hierzulande auch kein Thema – noch nicht.

Menschen mit Behinderungen können in geschützten Werkstätten einer Arbeit nachgehen.
Foto: Keystone
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Anders in Deutschland: Seit in unserem nördlichen Nachbarland der Mindestlohn Anfang Oktober auf zwölf Euro angehoben wurde, wird debattiert, ob dieser nicht auch in Werkstätten für Menschen mit Behinderung eingeführt werden müsste. Noch bekommen die dort Beschäftigten durchschnittlich 1,46 Euro pro Stunde. Dagegen regt sich Widerstand.

Uno sieht Verbesserungspotenzial

Auch in der Schweiz ist es fraglich, ob es zulässig ist, Menschen mit Behinderung bloss einen symbolischen Lohn zu zahlen. Arbeitsrechtler Thomas Geiser (70) sagt: «Vor allem in den Kantonen, in denen es Mindestlöhne gibt, stellt sich die Frage, ob diese auch in Werkstätten eingeführt werden sollten.»

Zudem hat die Schweiz 2014 die Uno-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Diese wird bislang aber nicht konsequent umgesetzt, wie Inclusion Handicap bemängelt. Das dürfe nicht länger akzeptiert werden, findet der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen. Auch ein Uno-Ausschuss kam dieses Jahr zum Schluss, dass es in Sachen Behindertenrechte noch Verbesserungspotenzial gebe, und empfahl der Schweiz einen Aktionsplan.

Unfaire Separierung der Arbeitsmärkte

Dabei kritisieren sowohl die Uno als auch Inclusion Handicap, dass die Absonderung von Menschen mit Behinderungen im geschützten Arbeitsmarkt zu «sehr niedrigen Löhnen» führt. «Arbeit ist Arbeit», sagt Matthias Kuert Killer (46) von Inclusion Handicap.

Ginge es nach dem Behindertendachverband, sollten der reguläre und der geschützte Arbeitsmarkt schrittweise zusammengeführt werden. Menschen mit Behinderungen sollten für ihre Arbeit ausserdem einen Mindestlohn erhalten, statt wegen der sehr tiefen Werkstattlöhne auf IV-Rente und Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen zu sein. Zumal selbst Werkstattlohn, IV-Rente und EL zusammen weniger ergeben als Mindestlöhne in Gesamtarbeitsverträgen.

Wertschätzung durch Mindestlohn

«Mit einem Mindestlohn würden die Beschäftigten zudem mehr Wertschätzung für ihre Arbeit erfahren», so Kuert Killer. Die Arbeitgeber sollten dafür einen Lohnkostenzuschuss bekommen. Er macht ein Beispiel: «Erwirtschaftet ein Arbeitnehmer bei voller Präsenz nur 400 Franken pro Monat, sollte er einen Lohn von 4000 Franken erhalten – die Firma bekommt 3600 Franken Zuschuss.»

Geiser, emeritierter Professor für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen, findet es zumindest teilweise sinnvoll, den ersten (regulären) und zweiten (geschützten) Arbeitsmarkt zusammenzuführen. «Vor allem dann, wenn Produkte in Werkstätten zu Tiefstlöhnen hergestellt werden, die auch auf dem regulären Arbeitsmarkt produziert werden.» Dann wäre auch ein fairer Lohn gewährleistet.

Auch für Annina Studer von Insos, dem Branchenverband der Dienstleister für Menschen mit Behinderungen, macht die Unterteilung in einen ersten und einen zweiten Arbeitsmarkt keinen Sinn. Die Werkstätten und Integrationsbetriebe gehörten genauso zum Arbeitsmarkt – nur richteten sich ihre Stellen an Menschen mit IV-Rente. Ein Problem mit den tiefen Löhnen sieht sie nicht – diese seien ja ein Zusatzeinkommen zu IV und EL. Ein Problem sei allerdings, wenn leistungsfähige Menschen mit Behinderung, die keine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt finden, in Werkstätten landen würden.

Bundesrat entscheidet bald

Kommt hinzu, dass EL und IV gekürzt werden können, wenn der Lohn von Werkstatt-Beschäftigten zu hoch ist. Staatsrechtler und Ständerat Andrea Caroni (42, FDP) ist zwar «grundsätzlich gegen die Einführung von Mindestlöhnen». Es könne jedoch nicht sein, dass EL und IV-Renten übermässig gekürzt würden, wenn der Lohn von Mitarbeitenden mit Behinderungen eine bestimmte Höhe übersteige. «Das setzt die falschen Anreize. Es kann nicht sein, dass Menschen, die mehr arbeiten, am Schluss weniger bekommen.»

Der Bund erarbeitet jetzt die behindertenpolitischen Massnahmen für die nächsten Jahre – in die sollen auch die Empfehlungen des Uno-Behindertenrechtsausschusses einfliessen. Wie die Massnahmen genau aussehen sollen, wird der Bundesrat voraussichtlich Ende Jahr beschliessen. Dann wird sich auch zeigen, ob ein Stundenlohn von einem Rappen rechtmässig bleibt.

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