Kritischer Moment nach Herzinfarkt
Notfallkonzept versagt im Gotthardtunnel

Ein Arbeiter erleidet mitten im längsten Eisenbahntunnel der Welt einen Herzinfakt. Ein stehender Güterzug verhindert aber eine schnelle Rettung. Das Notfallkonzept versagt.
Publiziert: 08.02.2021 um 14:13 Uhr
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Aktualisiert: 11.02.2021 um 15:32 Uhr

Zum Schluss wartet auch noch die Ambulanz vor verschlossenen Toren. Alles läuft schief in dieser kalten Dezembernacht. Die Temperaturen sind um den Gefrierpunkt. Zwei Bauzüge fahren in die Weströhre des Gotthardbasistunnels. Es kommt zum Drama. Ein Arbeiter erleidet einen Herzinfarkt und überlebt nur knapp.

Es ist die Nacht auf den sechsten Dezember. Nikolaustag. Eine unglückliche Verkettung von Umständen legt die Schwächen des Notfallkonzepts im längsten Eisenbahntunnel der Welt offen. Zum Glück nimmt die Geschichte aber ein relativ gutes Ende für den österreichischen Arbeiter, wie die «Eisenbahn-Revue» publik macht.

Am Anfang steht eine defekte Lokomotive von SBB Cargo. Sie bleibt kurz nach Mitternacht in der Oströhre stehen. Nichts geht mehr. Der Güterzug steht wie angenagelt. Ein zweiter Cargo-Zug kommt knapp dahinter zum Stehen. Ein dritter Zug wird kurz vor der Einfahrt in den 12-Milliarden-Franken-Bau gestoppt. 23 Züge sind schliesslich verspätet unterwegs. Die Ost-Röhre ist zu.

Rettungsübung im Gotthardbasistunnel: In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember kommt es zum Ernstfall.
Foto: Keystone
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Notfall im Tunnel

In der Weströhre wird gearbeitet. Es verkehren keine Personenzüge und auch keine Cargo-Züge. Nur zwei Bauzüge sind unterwegs. Sie sind schon kilometerweit in die Röhre gefahren. Auf einem der beiden Bauzüge ist der Österreicher. Er erleidet mitten in der Nacht einen Herzinfarkt.

Das Notfallkonzept sieht vor, dass in einer solchen Situation ein Zug in der anderen Röhre angehalten wird. Aber die zweite Röhre ist ja blockiert!

Schlimmer noch: Die Organisation der Rettung läuft sogar schief. Die Betriebszentrale im Tessiner Dorf Pollegio schafft es nicht, den Abtransport zu organisieren.

80-Tonnen-Lok wird zur Ambulanz

Es geht um jede Minute. Es bleibt nur der Transport über die Weströhre. Zurück in den Kanton Uri. Die Verantwortlichen müssen schnell entscheiden. Sie stehen unter Druck. Sie wollen ihrem Kollegen, ein Angestellter einer Drittfirma, helfen. Sie kuppeln alles um, bewegen eine 80 Tonnen schwere Lokomotive in eine neue Richtung. Ziel: Rynächt UR.

Es kommt zum nächsten Lapsus. Die Rettungssanitäter können nicht bis zum Gleis vorfahren. Der vereinbarte Treffpunkt ist beim Gebäude der Chemiewehr Uri. Die Ambulanz schafft es nicht dahin. Sie steht vor einem verschlossenen Tor.

Die Kollegen fassen sich ein letztes Mal ein Herz. Sie heben den Notfallpatienten aus dem Zug, hieven ihn über Schotter bis zur Ambulanz. Er gelangt schnellstmöglich ins Kantonsspital Uri, dann via Helikopter ins Kantonsspital Luzern. Noch am Nikolaustag wird er in der Innerschweiz operiert. Es folgt eine weitere OP in seiner Heimat in Österreich. Der Arbeiter überlebt. Die Bedenken am Notfallkonzept bleiben.

SBB verteidigen die Entscheidung

Die SBB wehrt sich gegen die Vorwürfe. Die Oströhre sei durch einen defekten Güterzug blockiert gewesen. Gleichzeitig erlitt ein Mitarbeiter in der Weströhre bei Unterhaltsarbeiten einen akuten medizinischen Notfall. «Es war nicht sicher, ob der Mitarbeiter durch die Gegenröhre genügend schnell evakuiert werden kann. Deshalb haben die Verantwortlichen entschieden, vom Notfallkonzept abzuweichen und den Mitarbeiter durch die Weströhre zu bergen, um eine verzögerungsfreie Bergung sicherstellen zu können», sagt SBB-Sprecher Reto Schärli zu BLICK.

Eine erste Analyse habe ergeben, dass der Entscheid, vom Notfallkonzept abzuweichen, richtig gewesen sei. «Zum Zeitpunkt, als schnellstmögliches Handeln gefragt war, war nicht sicher, wie gross die Verzögerung der Bergung durch die Lokstörung in der Gegenröhre sein wird.»

Alle Beteiligten seien froh und erleichtert, dass der Kollege rechtzeitig den Rettungskräften übergeben werden konnte und den medizinischen Notfall dadurch überlebte. (ise)

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