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Tour-Leaderin Diggins litt an Bulimie
«Ich wusste, dass es mich töten kann, aber ich konnte nicht aufhören»

Als Teenager musste Jessica Diggins um ihr Leben kämpfen. Ihre Mutter überwachte in der Nacht ihren geschwächten Herzschlag. Doch die Amerikanerin besiegte ihre Bulimie – und ist heute eine der stärksten Langläuferinnen der Welt.
Publiziert: 07.01.2021 um 15:05 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2021 um 07:32 Uhr
Stefan Meier

Sie ist neben dem Dominator Alexander Bolschunow bisher die überragende Figur der Tour de Ski. Jessica Diggins steht bei den Frauen in jedem Rennen auf dem Podest. Die Amerikanerin führt die Tour de Sk dank zwei Etappensiegen an und ist wohl so stark wie nie zuvor.

Ihr Siegerlächeln ist allzeit präsent und ansteckend. Wo sie auftaucht, herrscht in der Regel gute Laune. Sie ist stets gut drauf, strahlt alle an, spricht mit ihnen und gratuliert aufrichtig. Es gibt kaum jemanden im Ski-Tross, der die 29-Jährige nicht mag.

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Das strahlende Lachen ist das Markenzeichen von Jessica Diggins. Dahinter versteckt sich eine dramatische Vergangenheit.
Foto: keystone-sda.ch
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Doch hinter dem fröhlichen Wirbelwind steckt eine traurige Geschichte. Vor gut zwei Jahre schüttete Diggins in diversen US-Medien ihr Herz aus. Sie litt jahrelang unter einer Essstörung. 2020 brachte sie eine Autobiographie heraus mit dem Titel: «Brave Enough». Zu deutsch: mutig genug.

«Ich hatte Angst und habe mich geschämt»

Schon immer strebt Diggins nach Perfektion. Als sich auf der Highschool der Körper der Teenagerin verändert, kann sie damit nicht umgehen. «Es war beängstigend», erzählt sie. Im Bestreben, Langläuferin zu werden, sieht sie den Weltcup-Athletinnen zu. «Ich dachte fälschlicherweise, dass die alle absolut kein Körperfett haben.»

Diggins will diesem falschen Ideal nacheifern. Sie schränkt sich beim Essen ein, stellt alles um – bis ins Extreme. «Als ich die Highschool abschloss, habe ich das erste Mal übergeben.»

Freunde, Familie und Teammitglieder drücken ihre Sorgen aus. Aber Diggins winkt ab. «Mir geht es gut. Ich versuche nur, einen athletischen Körper zu haben», sagt sie. Mittlerweile ist ihr bewusst: «Ich hatte zu viel Angst und habe mich zu sehr geschämt, um einzusehen, dass ich ein Problem habe.»

«Ich wusste, dass es mich töten kann»

Es dauert lange, bis die junge Frau aus Afton, Minnesota, erkennt, wie gross ihr Problem ist. Irgendwann merkt Diggins, dass sie mit dem Erbrechen nicht mehr aufhören kann. «Ich dachte dann: ‹Das ist Bulimie!› Ich musste mich dem stellen und wusste, dass es nicht gut für mich war. Ich wusste, dass es mich töten könnte. Es hat mein Herz so sehr belastet, aber ich konnte nicht aufhören.»

Also macht sie weiter – mit dem Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. «Ich hatte Angst, fett zu werden ohne meine Essstörung», erinnert sie sich. Irgendwann habe sie sich mehrmals am Tag übergeben.

Die Mutter überwachte ihren Herzschlag in der Nacht

Statt in der Loipe stärker zu werden, geben ihre Leistungen ab. Doch erst als die Krankheit auch ihr Privatleben mit voller Härte trifft, kommt die Wende. «Ich habe realisiert, was ich meiner Familie antue. Meine Essstörung hat alles in meinem Umfeld vergiftet.»

Besonders schlimm sind die Erinnerungen an ihre Mama. «Ich habe meine Mutter zum Weinen gebracht», sagt sie. «Sie hat Wecker gestellt, um in der Nacht nach mir sehen zu können. Um sicher zu sein, dass mein Herz nicht im Schlaf stehen bleibt.»

Mit 18 geht sie in eine Klinik

Sie ist 18 Jahre alt, als sie sich 2010 in die Obhut der Klinik «The Emily Project», mittlerweile ihr Kopf-Sponsor, begibt und den langen und schwierigen Weg der Heilung antritt. Ein Weg, der niemals enden wird, glaubt Diggins. Sie werde wohl immer eine «potenzielle Patientin» sein.

Aber ihr Leiden hat sie stark gemacht, ist sie mittlerweile überzeugt. Zwei Jahre nach dem Horror erobert sie die Langlauf-Welt, steht 2012 erstmals auf dem Weltcup-Podest. 31 Mal gelingt ihr das bis heute. Sie ist Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Teamsprint und steht nun vor ihrem grössten Triumph als Einzelsportlerin. Ihren wichtigsten Sieg hat sie aber vor einem Jahrzehnt geschafft.

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