Menschenrechte und klimatisierte Stadien – Sprint-Star Ajla Del Ponte über ihre Katar-Erlebnisse
«Das ist nicht normal, das ist Wahnsinn»

Sprinterin Ajla Del Ponte startete 2019 an der WM in Katar – mit einem schlechten Gefühl und ohne sich kritisch zu äussern. Etwas, das sie ändern würde. Die Fussball-Stars, die trotz allem antreten, versteht sie dennoch.
Publiziert: 19.11.2022 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2022 um 07:49 Uhr
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Emanuel GisiSportchef

Ajla Del Ponte, Sie trainieren in Holland und in der Schweiz. Beide Länder fiebern der WM entgegen. Wie schauen Sie diesen Winter Fussball?
Ajla Del Ponte:
Ich bin ehrlich: Ich bin keine, die eine Fussball-WM eng verfolgt. Meine Sportart ist immer schon Eishockey. Aber ich werde dieses Jahr definitiv nicht schauen. Das hat nichts mit unserer Schweizer Nati zu tun, ich hoffe, sie können Grosses leisten. Aber für mich ist es eine Frage der Prinzipien.

Sie boykottieren die WM aus ethischen Gründen?
Ja. Es geht darum, was in Katar passiert. Es gibt riesige soziale Probleme, es gibt die Frage der Nachhaltigkeit, die Menschenrechte werden nicht respektiert. Wir hatten das gleiche Problem 2019, als die Leichtathletik-WM in Doha stattgefunden hat. Damit es halbwegs erträglich war, hat man eine Klimaanlage im Stadion installiert. Das ist nicht normal, das ist Wahnsinn! Meine persönliche Meinung: Ich kann nicht schauen.

Sie erwähnen 2019. Da sind Sie bei der WM in Katar angetreten. Haben Sie diese Themen vor drei Jahren anders bewertet?
Nein. Ich habe damals viel nachgedacht: Soll ich hingehen, soll ich nicht? Ich meine, es geht ja wirklich nicht auf: Da spreche ich viel mit meinen Freunden darüber, was ich tun kann, um nachhaltiger zu leben. Und dann bestreite ich eine WM in einem Stadion, das bei 38 Grad Aussentemperatur am Abend auf 21 Grad heruntergekühlt wird! Das passt nicht zusammen. Und dann das Thema Gleichberechtigung: Ich habe keine Frauen im Stadion gesehen. Das Thema Menschenrechte hat mich sehr beschäftigt, Sport sollte für alle sein. Aber ich war damals noch jung, stand am Anfang meiner Karriere.

Klare Worte: Sprinterin Ajla Del Ponte übt Kritik an der Fussball-WM in Katar.
Foto: AFP
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Ajla Del Ponte

Ajla del Ponte (26) katapultierte sich 2021 in neue Sphären. Die zweitschnellste Frau der Schweiz (10,90 s über 100 m) lief bei Olympia in Tokio über 100 m als Fünfte mitten in die Weltspitze. Anfang 2021 wurde sie Hallen-Europameisterin über 60 m. Die vergangene Saison lief dagegen deutlich schlechter: Nach langer Verletzungspause zum Start kam sie nie auf Touren und brach ihr Jahr schliesslich vor der EM in München ab. Del Ponte stammt aus Locarno und trainiert in Papendal (Ho) beim Schweizer Coach Laurent Meuwly.

Ajla del Ponte (26) katapultierte sich 2021 in neue Sphären. Die zweitschnellste Frau der Schweiz (10,90 s über 100 m) lief bei Olympia in Tokio über 100 m als Fünfte mitten in die Weltspitze. Anfang 2021 wurde sie Hallen-Europameisterin über 60 m. Die vergangene Saison lief dagegen deutlich schlechter: Nach langer Verletzungspause zum Start kam sie nie auf Touren und brach ihr Jahr schliesslich vor der EM in München ab. Del Ponte stammt aus Locarno und trainiert in Papendal (Ho) beim Schweizer Coach Laurent Meuwly.

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Würden Sie heute anders handeln?
Das ist schwierig zu sagen. Ich hatte noch nicht die Stimme, die ich jetzt habe. Damals hat sich niemand für mich interessiert. Das hat sich 2021 geändert, als ich im Olympia-Final stand und Schweizer Rekord lief (10,90 Sekunden, d. Red.). Jetzt würde ich etwas sagen, ich würde versuchen, meinen Einfluss positiv zu nutzen. Ich will ein Vorbild sein.

Aber Sie würden wieder in Katar an den Start gehen.
Das ist mein Job! Es ist mein Leben! Wie es auch für die Fussballer der Nationalmannschaft der Fall ist. Wir haben Fans, Sponsoren, und die wollen sehen, was wir an der WM zeigen, ob in der Leichtathletik oder im Fussball.

Nun, die meisten Fussballprofis, die für die WM aufgeboten werden, verdienen gutes Geld. Im Gegensatz zu den Leichtathleten, die, gerade in der Schweiz, in den wenigsten Fällen auf Rosen gebettet sind.
Es ist auf jeden Fall auch für die Fussballer hart. Die Spieler haben nicht entschieden, da spielen zu wollen. Ich verstehe, dass unsere Nati-Spieler in Katar antreten.

Sie sagen, Sie würden sich öffentlich äussern, wenn Sie heute in Katar antreten müssten. Was wünschen Sie sich von gestandenen Nationalspielern wie Granit Xhaka oder Yann Sommer?
Ich habe gesehen, was die Australier gemacht haben: ein Statement als Team, das die Lage in dem Land thematisiert und kritisiert. Das kann etwas bewegen. Das finde ich sehr gut: Proaktiv auf die inakzeptablen Verhältnisse in Katar hinweisen. Aber es mag auch Gründe geben, warum jemand nichts sagt. Das gilt es zu respektieren.

Welche Rolle haben Sportler in sozialen und nachhaltigen Fragen in Ihren Augen?
Ich denke, wir tragen eine Verantwortung. Wir haben eine Fanbasis, und wir können einen Unterschied machen. Natürlich, nicht alle können alles über Nachhaltigkeit wissen. Aber als jemand, die mittlerweile ein paar Follower in den sozialen Medien hat, ist es mir wichtig, etwas zu tun, damit die Welt ein bisschen besser wird. Leonardo DiCaprio könnte auch sagen, er sei kein Politiker, sondern Schauspieler. Und trotzdem ist er Umweltaktivist.

Wenn Sie an Ihre Erlebnisse in Doha 2019 zurückdenken – was kommt Ihnen in den Sinn?
Wir waren im Trainingslager in der Türkei und sind erst kurz vor dem Wettkampf hingeflogen, weil die klimatischen Bedingungen im Oktober so brutal waren. Es war verrückt: Ich habe mein Warm-up indoor machen müssen, danach hiess es: Kühlweste anziehen, um rauszugehen. Es war so heiss draussen! Und dann lief man ins Stadion ein, wo es wieder sehr kühl war, weil man eine gigantische Klimaanlage da reingebaut hatte. Total verrückt.

Es gibt Beobachter, die sagen, dass sich die Situation in Katar dank der Fussball-WM verbessert hat.
Die Studie würde ich gerne sehen, die dereinst beweist, dass es eine langfristige Verbesserung gab. Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber die Fifa hat die WM nicht nach Katar vergeben, um etwas an der Menschenrechtssituation zu verändern. Da brauchen wir uns, denke ich, keine Illusionen zu machen. Ich hoffe natürlich, dass sich etwas verändert und dass es auch innerhalb der Fifa mehr Dialog gibt, um in Zukunft vermehrt das zu tun, was gut ist für die Menschen und für den Fussball und nicht nur für das Konto.

Welche Reaktionen bekommen Sie eigentlich, wenn Sie sich zu politischen Themen äussern?
Es gibt Leute, die finden, ich solle die Klappe halten. Ich sei schliesslich nur Sportlerin. Aber was ich tue, kommt von einem guten Ort: Wir befinden uns in einer ökologischen Krise. Wir müssen etwas tun. Wenn das die Leute stört, dass ich das sage, dann ist das halt so. Und etwas ist mir schon noch wichtig …

Was denn?
Ich sage den Leuten ja nicht, welche Partei sie wählen sollen. Das steht mir nicht zu. Ich spreche sehr grundlegende Punkte an: Die Klimakrise ist wissenschaftlich belegt und die Menschenrechtssituation in Katar ist unstrittigerweise katastrophal. Das sind grundlegende Themen. Wir sollten darüber doch nicht diskutieren müssen.

Sie haben PSG-Stürmer Kylian Mbappé kritisiert, der sich im Sommer vor Lachen kugelte, als er gefragt wurde, ob sein Klub manche Auswärtsreisen mit dem Zug unternehmen könnte.
Stimmt. Aber Mbappé ist gar nicht das grosse Problem: Klar war seine Reaktion blöd. Aber die Öffentlichkeit hat sich danach nur darüber echauffiert. Und nicht darüber gesprochen, was man ändern könnte: Dass sein Klub Paris St-Germain durchaus die Voraussetzungen hätte, gewisse Dinge zu ändern, aber sich dafür nicht interessiert. Zu oft laufen Debatten genau so. Das bringt dann auch nichts.

Letzte Frage: 2016 war Olympia in Rio, 2019 die WM in Doha. Sind Sie froh, dass Olympia 2024 in Paris ist und 2028 in Los Angeles, wo Menschenrechte weniger ein Thema sein werden?
Nun, wir werden sehen. Ich bin zum Beispiel gespannt, was in Paris und LA mit den Obdachlosen während der Spiele passiert. Wir im Westen dürfen nicht vergessen, dass wir selber auch unsere Probleme haben, die wir lösen müssen.

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