Abschied von der Valascia
Che Guevara hängt auf halbmast

Eine einsame Toilette, Wasserpfützen in den Gängen und fliegende Sitzschalen: Die Valascia hatte für jeden etwas.
Publiziert: 05.04.2021 um 09:13 Uhr
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Aktualisiert: 05.04.2021 um 10:03 Uhr
Dino Kessler

Mythos. Heilige Stätte. Eine Legende. Kult. Wenn du als Spieler in die Valascia trittst, hast du ganz andere Gedanken. Tom Fergus, ein Amerikaner mit NHL-Vergangenheit und in den 90er-Jahren für den EV Zug im Einsatz, sagte nach einem seiner ersten Auswärtsspiele in der Schweiz über die kälteste Eishalle südlich der Alpen trocken: «Die hätten besser das Eis kleiner und die Garderoben grösser gemacht. Das ist total verrückt.»

Die Gästegarderoben der Valascia: Den Boden sah man nur, wenn keiner drin war. Die waren mehr Berghütte für in Not Geratene: kleiner Raum, etwas Holz, Nasszelle mit Lavabo, Kloschüssel und Duschkabine für höchstens zwei. Eine Toilette für alle – ein Kernproblem der Valascia, das die Zuschauer noch etwas härter trifft als die Spieler.

Kurz nachdem das Dach montiert worden war (1979), spielte ich da mal mit den Novizen des EHC Chur. Damals war die Valascia noch kein verklärtes Kultobjekt und die Garderobe mehr als gross genug. Wegen dieser Eishalle wäre damals auf jeden Fall keiner auf die Idee gekommen, einen Text zu verfassen. Es wäre auch keiner zuhinterst in die Leventina gefahren, bloss um ein paar Fotos von einer Eishalle zu schiessen, die demnächst dichtgemacht wird. Na und? Das hätte man gesagt. Vielleicht hätte man sich noch gedacht, ob es nicht sowieso verboten sein müsste, ein Gebäude, in dem sich zwischendurch mehrere Tausend Personen aufhalten, in die Fallschneise einer Lawine zu bauen.

Die Ambri-Spieler vor der Südkurve – das war das Leben in der Valascia.
Foto: Keystone
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Dann kam Dale McCourt

Damals war «Kult» aber auch noch kein stehender Begriff in der Sport- und Popkultur, sondern ein Fremdwort. Vor diesem Spiel mit den Novizen haben wir über Ambri und seine Spieler gesprochen, aber kein einziges Wort über die Eishalle verloren. Von Rossetti war die Rede. Von ganz vielen Celios. Von Verrückten. Eine Eishalle hatten wir in Chur auch. Zu dieser Zeit hatten Sportstätten ausser der Funktionalität keine grosse Bedeutung, dieser Modetrend kam erst später. Viel später. Lange vorher kam erst mal Dale McCourt in die Valascia. Ein Kanadier mit First-Nation-Background, ein richtiger Star, der in Nordamerika vor Gericht gestanden hatte, weil er sich geweigert hatte, sein Team (die Detroit Red Wings) zu verlassen. Spieler wie dieser McCourt haben mehr für das Image der Valascia getan als die Eishalle selbst. Viel mehr. Der inzwischen als despektierlich geltende Begriff «Chief» (Häuptling) umgab McCourt damals wie eine Aura. Wenn man als jüngerer Gegenspieler McCourt einen Stock über die Hände zog, schaute er dich bloss etwas streng an, und man wusste es beim nächsten Mal besser.

Die Valascia erhielt den Stempel eines besonderen Bauwerks erst, als Dale McCourt längst wieder weg war und andere Klubs und Städte damit begonnen hatten, neue Eishallen zu bauen. Die alte Resega in Lugano war mindestens ebenso klein, eng und ungastlich, aber die alte Resega wurde 1995 ohne viel Aufhebens durch eine moderne Arena ersetzt, als die Finanzierung stand. Das machen sie mit der Valascia jetzt eben auch. Lugano ist also um rund 25 Jahre reicher als Ambri.

Auf dem Parkplatz fliegen Steine und Raketen

Verrückte Spiele gab es in der Valascia vielleicht etwas öfter als nördlich des Gotthards, aber das hat mit der Infrastruktur weniger zu tun als mit den Menschen. Nach besonders kontroversen Partien war die Stimmung teilweise so aufgeheizt, dass Sitzschalen von der Tribüne flogen und später die Meldung kam, der Weg zum Mannschaftsbus sei noch nicht sicher, weil draussen auf dem Parkplatz Steine und Raketen fliegen.

Urs Burkart, ein ehemaliger Verteidiger beim EV Zug, zertrümmerte mit seinem Stock mal die Plexiglas-Verkleidung der Speakerkabine, nachdem ein Ersatzspieler ohne Einsatz als «Best Player» unserer Mannschaft ausgerufen worden war. Eine Provokation. Zuvor waren natürlich die Fäuste geflogen und der Fallout war beträchtlich, unser Trainer Björn Kinding wurde beim Angriff auf die nun scheinbar schutzlosen Punktrichter mit einem Schreibbrett verprügelt, von den Sitzplätzen hagelte es Lira-Münzen, jede Menge Krimskrams und Rufe wie «Diebe, Mörder!»

Verrückte Spiele wird es auch in der neuen Valascia geben, dafür wird der mobile Part des Klubs sorgen. Die Spieler, Trainer, Offiziellen, die Zuschauer und die Hartgekochten, die Weitgereisten und die aus dem Tal. Sie machen den wirklichen Zauber der Valascia aus. Vieles andere von diesem teilweise konstruierten Kultstatus der Eishalle basiert auf dem «Früher war alles besser»-Prinzip, das meist einem schlechten Gedächtnis geschuldet ist. Paolo Duca sagte vor einiger Zeit in einem Interview, dass man versuchen werde, Spurenelemente des Charakters der Valascia in die neue Arena zu transportieren.

Abschied ohne Leben, Montanara aus der Dose

Die einsame Toilette meint er damit nicht, die scheinbar niemals austrocknenden Pfützen im Gang vor den Sitzplätzen wohl auch nicht, ebenso wenig wie das verdächtige Stromkabel, das auf der Pressetribüne scheinbar sinnlos von einem Dachbalken baumelt. Vielleicht findet sich in der neuen Arena irgendwo eine Ecke für den Gitterkasten mit den alten Holzstöcken, der in der Valascia hinter der Spielerbank steht. Das ist Retro-Chic. Ein paar Reliquien aus der gemütlichen Buvette könnten den Weg in die neue Gastrozone drüben auf dem Flugplatz finden. Den Rest werden die Zuschauer erledigen und die neue Arena mit Leben füllen. Irgendwann. Che Guevara und der Häuptling Geronimo hängen in der Südkurve aber gerade auf halbmast. Ein Abschied ohne Leben, die Montanara aus der Dose.

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