«Alles bleibt offen, so lange es irgendwie geht»
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Mittelweg verwundert Deutsche:«Alles bleibt offen, so lange es irgendwie geht»

ZDF-Reportage wundert sich über riskanten Schweizer Mittelweg
«Alles bleibt offen, so lange es irgendwie geht»

In der Schweiz seien Krankenhäuser am Limit. Trotzdem setze die Regierung auf Eigenverantwortung und minimale Massnahmen. Ob das gut gehen könne, fragt das ZDF «Auslandsjournal». Um die Wirtschaft nicht abzuwürgen, so der Unterton, würden Menschenleben geopfert.
Publiziert: 03.12.2020 um 03:02 Uhr
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Aktualisiert: 03.12.2020 um 13:28 Uhr

Deutschland wundert sich über die laschen Corona-Massnahmen in der Schweiz. Die «Bild» berichtete gar vom «Corona-Wunder» im Land und staunte, wie das Land ohne Lockdown die Trendwende schaffe. Jetzt setzt das ZDF mit einer kritischen Reportage nach. Das «Auslandsjournal» hat eine Reporterin in die Schweiz geschickt, um sich vor Ort ein Bild über die Corona-Lage zu machen. Der Titel der Reportage: «Der Stolz der Schweizer – Freiheit statt Corona-Lockdown». Fazit der Reportage: Die Schweiz gehe einen riskanten Mittelweg, der Menschenleben fordere.

«Über Corona spricht man nicht gerne in den Schweizer Bergen» – mit diesen Worten beginnt die ZDF-Reportage. Besuch in Schwellbrunn AR, das im Oktober Schlagzeilen machte, weil ein Brautpaar trotz Symptomen 200 Gäste zur Hochzeit geladen hatte. Auch als sich die Corona-Symptome häuften, sei weiter geschwiegen worden. «Viele hier halten Corona für ein Hirngespinst», meint ZDF-Reporterin Eva Schiller.

«Die Gefahr dieses Virus ist ja nicht wirklich belegt», sagt ein Anwohner zur Journalistin. Andere wiederum würde diese Haltung ärgern. Denn nach der Hochzeit sei auch noch das Oktoberfest gefeiert worden. Und die Zahlen explodierten.

«Über Corona spricht man nicht gerne in den Schweizer Bergen.» So beginnt die ZDF-Reportage mit einer Ansicht von Schwellbrunn AR, wo im Oktober nach zwei Events die Infektionszahlen explodierten.
Foto: Screenshot ZDF «Auslandsjournal»
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«Aufgepasst Burschen, es ist ernst»

Während des ersten Lockdowns habe es im Gebiet kaum Infektionen gegeben, erzählt Dorfwirt Peter Sturzenegger vom Gasthaus und Metzgerei Ochsen. «Jetzt hat es eigentlich gut getan», sagt der Wirt. Es sei eine Warnung: «Aufgepasst Burschen», so Sturzenegger, «es ist ernst».

Yves Noël Balmer, Gesundheitsdirektor vom Kanton Appenzell Ausserrhoden, räumt ein, die Warnungen von Virologen im Sommer seien nicht ernst genommen worden: «Dass es so schnell ging, das kam sehr überraschend.» Die Devise im Kanton sei wohl die des ganzen Landes, resümiert die Reporterin. Nicht die Regierung in Bern entscheide. Die Durchführung der Massnahmen liegen bei den 26 Kantonen.

«Freiheitsliebende Schweizer»

Ob es Sinn mache, Gasthäuser weiter offenzuhalten, wird Gesundheitsdirektor Balmer gefragt. Der muss nicht lange nachdenken: «Die Schweizer sind sehr freiheitsliebend. Wir müssen mit unserer Bevölkerung Massnahmen machen, die auch gelebt werden.»

Die Schweiz, so die Reporterin, gehe damit einen «diametral anderen Weg» als etwa Deutschland. Trotz doppelt so hoher Infektionsraten setze man im Land der Eidgenossen auf Eigenverantwortung: «Alles bleibt offen, solange es irgendwie geht. Trotz voller Intensivstationen.»

«Skifahren muss sein»

Auch Gesundheitsminister Alain Berset (48) zeige sich gelassen: «Skifahren muss sein», und Finanzminister Ueli Maurer (70) gehe es vorab um den Schutz der Wirtschaft: «Wir können uns keinen zweiten Lockdown leisten», sagt Maurer. «Dafür haben wir das Geld nicht. Wir müssen risikobasierte Massnahmen treffen.»

Trotz europäischer Spitzenwerte seien kantonal nur Teillockdowns ausgerufen worden. Das stosse auch französischsprachigen Teil des Landes auf wenig Verständnis – dort, wo Intensivstationen noch immer am Limit seien und Mitte November 20 Prozent des Krankenpersonals infiziert waren

Martin Tramer, Leiter der Notfallmedizin an der Uniklinik Genf: «Es gibt Politiker, welche die Wirtschaft vertreten. Da hätte man schon manchmal ein bisschen Lust gehabt, sie durch ein Spital und die Intensivstation zu führen, dass sie sehen, was hier eigentlich abläuft.»

Steht die Wirtschaft über dem Wohl von Patienten?

Die Schweiz sei ein reiches Land und habe gewisse Reserven, sagt Tramer. Doch am Ende sei die Frage, was wichtiger sei: «Das Wohl von Patienten oder die Wirtschaft.»

Aufgesucht wird auch Isabelle Eckerle, Virologin an der Uniklinik Genf. Sie habe «fassungslos» zugeschaut, wie die Sterberate in der Schweiz auf das Dreifache des deutschen Werts emporgeschnellt sei. Eckerle spricht von «vielen vermeidbaren Todesfällen». Die Zahlen in der Schweiz seien zwar rückläufig, räumt sie ein: «Doch wir befinden uns noch immer auf einem sehr, sehr hohen Niveau.»

Auch in Zürich herrsche der Eindruck von einem Normalzustand. Leute gehen aus, Restaurants sind offen. Obwohl die Infektionsraten so hoch sind wie in einem deutschen Hotspot. Viele würden den liberalen Kurs der Regierung unterstützen. Es gebe aber auch Widerstand gegen die laschen Massnahmen.

«Riskanter Mittelweg, der Menschenleben fordert»

«In der Schweiz versucht man, mit dem Virus einen Mittelweg zu fahren», sagt Simon Gehren von der Aktion #CoronaZero. «Der Mittelweg ist normalerweise eine Schweizer Tugend. Aber mit dem Virus gibt es keinen Mittelweg.»

Eine Gesellschaft sei daran zu erkennen, wie sie mit ihren Schwächsten umgehe, ob sie ihnen helfe, sagt eine Passantin. Sie habe den «Eindruck, dass dieses Prinzip hier nicht verfolgt wird».

«Die Schweiz riskiert einen riskanten Mittelweg», schliesst die Reporterin, «der Menschenleben fordert.» (kes)

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