«So kann jeder Verantwortung übernehmen»
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Gute Erfahrung mit Massentests:«So kann jeder Verantwortung übernehmen»

1x wöchentlich zum Spucktest
Bund ändert Pandemie-Strategie radikal

Graubünden startet Massentests in Altersheimen, Schulen und Betrieben. Jetzt ist klar: Auch der Bund schwenkt auf das Bündner Modell um – und bittet die Schweizer zu regelmässigen Spucktest.
Publiziert: 24.01.2021 um 00:50 Uhr
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Aktualisiert: 27.01.2021 um 12:40 Uhr
«Wir sind skeptisch», sagte Gesundheitsminister Alain Berset (48) seit Monaten zu präventiven Tests ganzer Bevölkerungsgruppen. Nur Personen mit Symptomen sollten sich testen lassen.
Foto: keystone-sda.ch
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Danny Schlumpf

In einem Schreiben vom Freitag fordert das Bundesamt für Gesundheit die Kantonsregierungen auf, regelmässige Corona-Tests durchzuführen – in Altersheimen, Schulen und Unternehmen. Die Kosten übernehme der Bund. Die entsprechende Verordnung muss vom Bundesrat noch abgesegnet werden. Die Landesregierung berät vo­raussichtlich am Mittwoch darüber, die Chancen dafür stehen aber ausgezeichnet.

Einige Kantonsvertreter mussten das Schreiben des BAG zweimal lesen. Denn was da in holprigem Beamtendeutsch steht, ist eine Bombe: Der Bund stellt seine Teststrategie auf den Kopf.

«Wir sind skeptisch», sagte Gesundheitsminister Alain Berset (48) seit Monaten zu präventiven Tests ganzer Bevölkerungsgruppen. Nur Personen mit Symptomen sollten sich testen lassen. Massentests? Vom Staat finanziert? Nicht in der Schweiz! Doch jetzt ist alles anders: In seinem neuen Verordnungsentwurf ruft der Bund die Kantone zu grossflächigem Testen auf.

«Das ist hoffentlich die Wende in der Schweizer Pandemiebekämpfung», sagt Markus Wolf (47), CEO der Weissen Arena in Flims-Laax GR. Ohne Wolf würde es diese Wende nicht geben. Seit letztem Herbst war dem Bergbahnen-Chef klar: «Wir müssen unseren Betrieb testen.»

Zusammen mit der Uni Heidelberg (D) entwickelte er ein eigenes Konzept. Zentral sind die neuen PCR-Speicheltests: 30 Sekunden gurgeln, ins Röhrchen spucken – fertig. «Doch einmal testen reicht nicht», sagt Wolf. Deshalb eruiert ein Fragebogen für jeden Testwilligen, wie häufig er spucken sollte. Eine Skilehrerin, die in einer WG wohnt, muss es öfter tun als ein Single, der im Homeoffice arbeitet.

Symptomlose werden erkannt

Kurz vor Weihnachten legte Markus Wolf los. Seither lassen sich bis zu 95 Prozent seiner 800 Mitarbeiter in Flims-Laax freiwillig testen – einmal pro Woche im Schnitt. Drei positive Fälle wurden bisher gefunden. Die drei Betroffenen waren asymptomatisch, wussten also nichts von ihrer Erkrankung. «Genau um diese symptom­losen Fälle geht es», sagt Wolf. «Sie werden dank Massentests erkannt.»

Das Potenzial ist enorm: Mehr als die Hälfte aller ­Virusübertragungen geht gemäss BAG auf das Konto von asymptomatischen Infizierten.

Für Markus Wolf war früh klar: «Dieses Konzept ist nicht nur für unseren ­Betrieb interessant.» Also ging er Anfang Dezember zum BAG nach Bern. Doch Virginie Masserey (56), ­Leiterin Sektion Infektionskontrolle, winkte ab. Sie fand, es gäbe zu viele gesetzliche Hürden. Martin Bühler (44) sah das anders. Der Leiter des Führungsstabs Graubünden nahm mit Wolf Kontakt auf – und hievte dessen Konzept auf die kantonale Ebene.

Nach einem Massentest und Nachtests in Südbünden startet der Kanton am kommenden Mittwoch sein Mammutprojekt: Er führt regelmässige Massentests in Altersheimen, Schulen und Unternehmen durch. Das Ziel: der Ausstieg aus der Lockdown-Spirale. «Wenn es uns gelingt, 30 Prozent der mobilen Bevölkerung regelmässig zu testen, können wir die Positivitätsrate und den R-Wert auch nach der Öffnung von Läden und Restaurants nachhaltig tief halten», sagt Bühler.

Andreas Cerny (64), ­Virologe am Corona-Re­ferenzspital Moncucco in Lugano TI teilt Bühlers Optimismus: «In einer ­Situation, in der sich das ­Virus stärker auszubreiten beginnt, sind solche Massnahmen sinnvoll und helfen, den Anstieg der Fallzahlen abzufangen und so Schliessungen zu vermindern oder eine Wiedereröffnung zu beschleunigen.»

Den ganzen Kanton testen

Der Kanton Graubünden plant 20'000 Tests pro Woche. Da braucht es ­Leute, die zupacken. Deshalb hat Bühler vor zwei Wochen Gieri Cathomas (44) angerufen. Der Rätoro­mane gründete in den letzten Jahren mehrere Gesundheitseinrichtungen, darunter eine Klinik für Botox-Behandlungen. «Er ist ein Vollblutunternehmer», sagt Bühler.

Der Kanton beauftragte Cathomas mit den Tests in den Firmen. Seither arbeitet dieser in einer Zivilschutzanlage am Rand von Chur. Dort übernachtet Cathomas auch, genau wie Martin Bühler. «Wir haben keine Zeit zu verlieren», sagt Cathomas. «Wir wollen die Betriebstests über den ganzen Kanton aus­rollen.»

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Über 120 Firmen haben ihre Teilnahme bereits zugesagt, unter ihnen die Firma Hamilton – mit 1500 Angestellten Graubündens grösster privater Arbeit­geber. Das Medizinaltechnik-Unternehmen stellt 60 Prozent der weltweiten PCR-Test-Roboter her. 400 seiner Geräte stehen im Londoner Spital St. Thomas, wo sich auch der bri­tische Premierminister ­Boris Johnson (56) wegen Corona behandeln liess. «Dort sind sämtliche Maschinen im Einsatz», sagt ­Hamilton-CEO Andreas Wieland (66). «Und draussen warten die Kranken­wagen mit neuen Patienten. Das droht auch der Schweiz, wenn wir nichts unternehmen.»

Die Mutationen des Virus machten Massentests noch dringlicher, sagt Wieland. «Nur so können wir endlich herausfinden, wo sich die Leute wirklich anstecken. Dann können wir auch gezielt eingreifen und Infektionsketten unter­brechen – anstatt einfach Beizen zu schliessen, nur weil das am bequemsten ist.»

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Online-Anmeldung mit Risikoprofil

Das Prozedere ist einfach: Ab Mittwoch können sich die Firmenangestellten freiwillig auf einer Web-Plattform anmelden und mit einem Fragebogen ihr Risikoprofil erstellen. So weiss jeder, wie häufig er sich testen lassen sollte. Der Kanton liefert den Firmen die Tests, die nach dem Spuck ins Röhrchen bei einer Sammelstelle abgegeben und im Labor ausgewertet werden. Aber sind die Tests auch zuverlässig? «Sie sind validiert und ­sicher», sagt Martin Bühler. «Das Risiko falscher Re­sultate ist sehr tief.»

Es sind dieselben Tests, die Markus Wolf in der Weissen Arena einsetzt. «Überhaupt hat Wolf die ­Basis gelegt für das, was wir hier in den ­Betrieben tun», sagt Bühler. Nun ist auch der Bund auf die Bündner Linie eingeschwenkt. Für Bühler und Cathomas ist klar: «Das ist ein Durchbruch, der uns den Rücken stärkt.» Unterstützung dürfte auch aus den anderen Kantonen kommen. «Ich denke, dass die Kantone diese Neuordnung mittragen und dass sich dieses Konzept rasch eta­blieren wird», sagt der baselstäd­tische Regierungsrat Lukas Engelberger (45), Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) zu SonntagsBlick.

Wird jetzt die ganze Schweiz durchgetestet? «Der jüngste Schritt des Bundes ist eine deutliche Öffnung der Strategie», sagt Rudolf Hauri (61), Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte und Kantonsärztinnen. «Bislang setzte der Bund darauf, auf Ausbrüche zu reagieren. Nun wird auch ohne Verdacht breitflächig getestet.»

Gefahr der Testmüdigkeit

Hauri rechnet damit, dass damit das Massentesten in den Kantonen Fahrt aufnimmt. «Das heisst aber nicht, dass jetzt gleich schweizweit flächendeckend getestet wird.» Der Plan des Bundes setze klare Rahmenbedingungen. «Es kann nicht jedermann einfach nach Belieben zum Test gehen. Das Unterfangen konzentriert sich auf klar definierte Einrichtungen.» Vieles hänge von deren Bereitschaft ab, sich zu engagieren. «Nur regelmässige Tests sind sinnvoll. Das aber birgt die Gefahr einer gewissen Testmüdigkeit.»

Werden es die Bündner packen? «Wir versuchen es zumindest», sagt Markus Wolf. Und das sei der entscheidende Punkt: «Ich staune schon, was alles nötig war, bis sich die Beamten in Bern mit unserem Konzept beschäftigten. Mit solcher Lethargie können wir in Graubünden wenig anfangen.»

In der Tat: Nachdem am letzten Wochenende eine Virusmutation in zwei St. Moritzer Hotels ausgebrochen war, testete das Dorf 70 Prozent seiner 5200 Einwohner innert 24 Stunden durch. Der Massentest unterbrach 53 Infektionsketten. Der Ausbruch wurde gestoppt.

Testen, testen, testen

«Testen, testen, testen», forderten die Epidemio­logen schon zu Beginn der Pandemie. Bloss fehlte hierzulande damals die ­Infrastruktur: Die Pharmafirmen fokussierten lange auf die Produktion sogenannter PCR-Tests mittels Nasen-Rachen-Abstrich. Diese können nur von geschultem ­Personal durchgeführt werden. Auch die Spucktests, wie sie in Graubünden zum Einsatz kommen, sind PCR-Tests – zumindest die Abnahme der Probe ist aber sehr viel einfacher; da be­nötigt es keine ärztliche Begleitung. Ausgewertet werden diese Tests allerdings ebenfalls im Labor. Womöglich aber kommen in Bälde auch Spucktests auf den Markt, die das ­Resultat sofort anzeigen. Welche Erfolge mit grossflächig ­eingesetzten Tests erreicht werden können, zeigt das Beispiel von ­Uruguay: Dort lancierte der Virologe Gonzalo ­Moratorio (39) im Frühjahr 2020 einen eigenen Corona-Test, der in Uruguay produziert und breit verwendet wurde. Während das Nachbarland Brasilien unter Covid-19 leidet, verzeichnet Uruguay mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern bislang 364 Corona-Tote. Auch ­asiatische Länder testen sehr viel häufiger auf Covid-19, um schnell neue Infektionsherde in den Griff zu bekommen.

«Testen, testen, testen», forderten die Epidemio­logen schon zu Beginn der Pandemie. Bloss fehlte hierzulande damals die ­Infrastruktur: Die Pharmafirmen fokussierten lange auf die Produktion sogenannter PCR-Tests mittels Nasen-Rachen-Abstrich. Diese können nur von geschultem ­Personal durchgeführt werden. Auch die Spucktests, wie sie in Graubünden zum Einsatz kommen, sind PCR-Tests – zumindest die Abnahme der Probe ist aber sehr viel einfacher; da be­nötigt es keine ärztliche Begleitung. Ausgewertet werden diese Tests allerdings ebenfalls im Labor. Womöglich aber kommen in Bälde auch Spucktests auf den Markt, die das ­Resultat sofort anzeigen. Welche Erfolge mit grossflächig ­eingesetzten Tests erreicht werden können, zeigt das Beispiel von ­Uruguay: Dort lancierte der Virologe Gonzalo ­Moratorio (39) im Frühjahr 2020 einen eigenen Corona-Test, der in Uruguay produziert und breit verwendet wurde. Während das Nachbarland Brasilien unter Covid-19 leidet, verzeichnet Uruguay mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern bislang 364 Corona-Tote. Auch ­asiatische Länder testen sehr viel häufiger auf Covid-19, um schnell neue Infektionsherde in den Griff zu bekommen.

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