Sie enthüllten Missstände im Synchronschwimmen
Diese Frauen opferten alles für die Wahrheit

Aline Stettler, Anouk Helfer und Fabienne Nippel waren ganz vorn dabei im Synchronschwimmen – bis sie auf Missstände aufmerksam machten.
Publiziert: 07.11.2023 um 11:04 Uhr
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Aktualisiert: 05.01.2024 um 11:31 Uhr
Florian Wüstholz
Beobachter

Gedehnt werden, bis die Muskeln reissen. Essverbote und Erniedrigungen im Trainingslager. Bodyshaming. Ein von Vetternwirtschaft und Begünstigung zerfressenes Wettkampfsystem. Was die Berner Synchronschwimmerinnen Aline Stettler, 20, Anouk Helfer, 22, und Fabienne Nippel, 20, im Juni 2022 in einer Recherche des Schweizer Fernsehens publik machten, klang wie ein schlechtes Déjà-vu. Nicht einmal zwei Jahre zuvor waren durch die «Magglingen-Protokolle» ähnliche Missstände im Kunstturnen und in der rhythmischen Sportgymnastik bekannt geworden.

«Bei uns war es leider ähnlich», erinnert sich Fabienne Nippel. Davon erfahren hat die Öffentlichkeit nur dank den Enthüllungen der drei ehemaligen Nationalkader-Schwimmerinnen. Sie erzählten von psychischer und physischer Gewalt im Training und an Wettkämpfen. Und lieferten einen Einblick in die Begünstigungen am Richterpult.

Dabei war der Tanz im Wasser für die drei Frauen jahrelang eine erfüllende Leidenschaft. «Ich fühlte mich im Wasser befreit vom Alltag», sagt Nippel. Für Stettler war es ein Rückzugsort, unter Wasser konnte sie abschalten.

Sie sprachen öffentlich über Erniedrigungen und gefährliche Praktiken in ihrem Sport: Fabienne Nippel und Aline Stettler (r.) sowie Anouk Helfer (nicht im Bild).
Foto: Franziska Frutiger
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

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Helfer träumte davon, dereinst als Artistin in Shows zu schwimmen. Sich beinahe schwerelos durchs Wasser zu bewegen, komplizierte Figuren zu tanzen – akrobatisch und akribisch genau.

Darauf richteten sie alle ihr Leben ein. Schule, Freizeit, Freundinnen – alles drehte sich ums Synchronschwimmen.

Mit Flaschen beworfen

Doch irgendwann wurden die täglichen stundenlangen Trainings, die Beschimpfungen, die Kontrolle durch die Trainerinnen, die Wettkämpfe und Lager zur unhaltbaren Belastung. Sie seien im Training mit Flaschen beworfen, beleidigt und angeschrien worden, so Nippel.

Dann mussten sie plötzlich auch noch einmal pro Woche auf die Waage stehen, um das Gewicht zu kontrollieren. «Manche assen den ganzen Tag davor nichts, um möglichst nicht zu viel Gewicht auf die Anzeige zu bringen», sagt Helfer.

Denn in der Welt des Synchronschwimmens gibts nur ein Körperideal: «Die perfekte Schwimmerin sieht so aus», sagt Stettler und streckt den kleinen Finger in die Höhe. «Man darf keine Muskeln sehen, die Beine müssen dünn und lang sein.» Die Folge: Essstörungen und Karriereende bei etlichen jungen Schwimmerinnen.

Verletzungen und Vetternwirtschaft

Die Trainingsmethoden führen ebenfalls immer wieder zu Verletzungen – insbesondere das auch im Kunstturnen kritisierte gewaltsame Dehnen durch andere. Als Zwölfjährige riss sich Helfer dabei den Gesässmuskel. Stettler leidet aus ähnlichen Gründen noch heute unter Hüftproblemen.

«Alle wussten, dass wir es waren, die den Sport negativ in die Medien gebracht hatten»: Aline Stettler (links) mit Fabienne Nippel
Foto: Franziska Frutiger

An den Wettkämpfen ging es weiter mit den Schikanen. Auch dort seien böse Kommentare über den Körper üblich gewesen. Dazu kam ein System aus ominösen Seilschaften und Vetternwirtschaft, dem auch die drei Schwimmerinnen zum Opfer fielen.

Richterposten wurden mit Trainerinnen und Eltern besetzt, die ihre eigenen Schützlinge bevorzugten. «Wir stellten fest, dass es auf die objektive Leistung nicht mehr ankommt», so Nippel.

In der Szene waren die Probleme allgemein bekannt. So bestätigten auch Schwimmerinnen anderer Vereine in der Recherche von SRF die Missstände. Sogar der Schweizerische Schwimmverband bemängelte in internen Dokumenten das Niveau bei den Richtern, die eigene Vereine und Athletinnen «systematisch und hemmungslos» bevorteilten.

Alle hätten von diesen Problemen gewusst, erzählt Nippel. Doch: «Wer das Thema ansprach, wurde abgekanzelt.»

Kein Gehör gefunden

Über Monate versuchten die drei Schwimmerinnen, intern auf die Missstände aufmerksam zu machen und Veränderungen anzustossen. Doch im Berner Verein, für den sie 13 Jahre lang schwammen, fanden sie kein Gehör.

«Niemand wollte Verantwortung übernehmen», erzählt Stettler. Stattdessen seien sie beiseitegeschoben worden und sollten Platz für die jüngere Generation machen. Sie seien richtig rausgeekelt worden, so Helfer.

«Wir stellten fest, dass es auf die objektive Leistung nicht mehr ankommt.»
Foto: Franziska Frutiger

2020 verkündeten die drei den Austritt; der Vereinsvorstand habe sie dafür an einem Gespräch mit Beschimpfungen eingedeckt.

Auch die verbandsinterne Meldestelle reagierte nicht auf ihre Hilferufe, sagen die drei Frauen. Deshalb wandten sie sich schliesslich an die nationale Meldestelle für Ethik im Spitzensport. Sie war 2022 ins Leben gerufen worden – als Reaktion auf die bekannt gewordenen Missstände im Kunstturnen.

Doch auch dort seien sie nicht ernst genommen worden, so Nippel. «Das war für uns ausschlaggebend, mit der Sache an die Öffentlichkeit zu gehen.» Die drei Frauen hofften, etwas in ihrem Sport zu verändern – und mit der Vergangenheit Frieden schliessen zu können.

Einfach war der Schritt an die Öffentlichkeit nicht. Denn im Sport hatten Stettler, Nippel und Helfer auch ihre zweite Heimat gefunden. «Seit ich denken kann, stand ich am Poolrand», sagt Nippel. «Viele in der Szene kennen mich seit meiner Geburt. Es war eine Familie für mich.»

Je älter die drei wurden, desto tiefer waren sie in der Szene verwurzelt. Sie habe mehr Zeit mit Synchronschwimmen als mit der Familie verbracht, erinnert sich Stettler.

Und so rechneten sie mit einer «Hasswelle». Kaum war die Geschichte an der Öffentlichkeit, fühlten sie sich abgestempelt. Die Welt des Synchronschwimmens ist klein und überschaubar. «Alle wussten, dass wir es waren, die den Sport negativ in die Medien gebracht hatten», sagt Stettler.

Die drei erhielten auch Zuspruch

Natürlich hätten sie Angst gehabt, mit ihrem Namen hinzustehen und die Missstände zu benennen. «Aber wir wollten anderen Schwimmerinnen zeigen, dass man die Vorgänge nicht in Ordnung finden darf. Dass man sich wehren und darüber sprechen darf», sagt Nippel.

Helfer wollte ein Zeichen setzen, dass sich im Sport, der ihr Leben erfüllte, etwas verändern muss, wenn er eine Zukunft haben soll. «Sonst macht es noch mehr junge Menschen kaputt», ergänzt Stettler.

Obwohl die Frauen aus der Szene auch viel Zuspruch und Komplimente für ihren Mut erhielten, mussten sie schnell feststellen, dass es für sie keine Zukunft im Sport gibt. «Wir waren ein Team, eine Familie», so Stettler. «Zurück blieb ein Loch. Und das Staunen, dass man uns einfach so fallen gelassen hat.»

Weinend zusammengebrochen

Im Jahr 2021 schwammen Aline Stettler, Anouk Helfer und Fabienne Nippel ihre letzten Wettkämpfe an der Junioren-EM in Malta und an der EM in Budapest. Als sie nach der Punktevergabe in Budapest unter der Dusche gestanden sei, sei sie weinend zusammengebrochen, erzählt Helfer.

Danach hatten sie alle drei Angst, als Zuschauerinnen an Wettkämpfe zu gehen. Angst vor den Reaktionen der Trainerinnen und Richterinnen.

«Plötzlich ist das alles nicht mehr deine Welt, nicht mehr deine Heimat», sagt Fabienne Nippel. Aber es sei schwer, loszulassen und zu akzeptieren, dass es vorbei sei. Ohne Training und Sportfamilie war da nur noch die grosse Leere. Sie besuchte zwar weiterhin die Sportschule, aber auf Spitzensport hatte sie keine Lust mehr.

Auch für Aline Stettler brach eine Welt zusammen. Sie wollte den Sport, für den sie so viel Herzblut investiert hatte, nicht einfach loslassen. Breitensport kam aber für sie nicht in Frage. Sie hatte ja andere Ziele, die sie nicht so leicht vergessen konnte. Heute sagt sie: «Nun schwimme ich in der Bahn, trainiere wieder drei- bis viermal pro Woche und gehe an Wettkämpfe.»

Anouk Helfer fand Distanz in den USA, wo sie wieder mit dem Schwimmen anfing und seitdem als Artistin auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet. So konnte sie ihren grossen Traum doch noch realisieren. «Der Sport ist schön, und ich liebe ihn immer noch», erzählt sie. «Aber im Wettkampf habe ich das nicht mehr ausgehalten. Und ich wusste, dass es vielen anderen genauso geht.»

Was bleibt

Frustriert sind die drei mutigen Frauen darüber, dass sich im Sport kaum etwas geändert hat.«Ich sehe da leider noch zu wenig Verbesserung», sagt Stettler. Auch deshalb fällt es ihnen schwer, die Sache hinter sich zu lassen.

In ihrem Berner Schwimmclub gab man sich gegenüber SRF uneinsichtig. Der Verein wies die Vorwürfe von Gesprächsverweigerung, gewaltsamen Trainingsmethoden und Bevorzugungen entschieden zurück.

Derweil grassiert die Vetternwirtschaft nach Meinung der drei Frauen weiter. «Die Welt des Synchronschwimmens ist klein und basiert auf ehrenamtlicher Arbeit», erklärt Nippel.

Rücktritt der Co-Direktion

Kurz nach dem Fernsehbeitrag trat die Co-Direktion des Verbands Artistic Swimming zurück – ohne die beschriebenen Probleme anzuerkennen.

«Wir sind immer noch enttäuscht, dass wir auf diese Art über das sprechen müssen, was wir so geliebt haben», sagt Stettler. «Aber wir sind auch stolz, dass wir diesen Weg gehen konnten.» Der Gang an die Öffentlichkeit und das Karriereende hätten alle drei müde und leer gemacht. «Aber wir sind uns treu geblieben», sagt Nippel. «Wir konnten für uns und andere einstehen.»

«Wir sind enttäuscht – aber auch stolz, dass wir diesen Weg gehen konnten.»
Foto: Franziska Frutiger
Bühne frei für mutige Menschen

Am 9. November verleiht der Beobachter den diesjährigen Prix Courage an inspirierende Menschen, die durch unerschrockenes Handeln und mutige Taten beeindrucken. Im Publikums-Voting konnten Sie Ihre drei Favoriten bestimmen. Nun entscheidet die Jury, wer mit dem Prix Courage 2023 ausgezeichnet wird.

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