2020 starben zehn Prozent mehr Menschen als 2019
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Corona-Massnahmen zum Trotz:2020 starben zehn Prozent mehr Menschen als 2019

Sämtlichen Corona-Massnahmen zum Trotz
2020 starben zehn Prozent mehr Menschen als 2019

Mindestens 74'500 Menschen sind vergangenes Jahr in der Schweiz verstorben – mit Abstand der höchste Wert seit der Spanischen Grippe 1918 und ein Zeichen massiver Übersterblichkeit. Verharmloser der Pandemie verlieren damit ihr wichtigstes Argument.
Publiziert: 10.01.2021 um 14:10 Uhr
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Aktualisiert: 25.01.2021 um 08:44 Uhr
Thomas Schlittler

Michele Bagorda (50) ist seit zwanzig Jahren für Keller Bestattungen tätig, eine GmbH mit Sitz in Rorschach SG. Seit 2012 führt er den Familienbetrieb. Der Bestatter hat durch seine Arbeit gelernt, mit dem Tod umzu­gehen.

Die letzten Wochen aber hinterliessen bei ihm Spuren: «Seit November müssen wir uns um doppelt so viele Todesfälle kümmern wie sonst. Das geht an die Sub­stanz – auch emotional.»

Aussagen wie diesen zum Trotz: In der Schweiz gibt es nach wie vor ­viele Menschen, die Covid-19 verharmlosen. Gemäss einer Umfrage der Universität Zürich glaubt gar ­jeder Fünfte, dass die Zahl der Pandemie-Opfer durch die Behörden bewusst übertrieben werde.

Übersterblichkeit: Im Gegensatz zur Romandie und dem Tessin sorgte in der Deutschschweiz erst die zweite für ungewöhnlich viele Todesfälle.
Foto: Thomas Meier
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Statistik zählt Todesfälle unabhängig von Ursache

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählte bislang 7583 Covid-Opfer. Ob diese Menschen mit oder an Corona gestorben sind, wird immer wieder heftig diskutiert. Vor wenigen Tagen flammte die Debatte erneut auf, nachdem in der Corona-Todesstatistik ein 29-Jähriger auf­getaucht war.

Dass diese Diskussion unerheblich ist, zeigt das Mortalitätsmonitoring des Bundesamts für Statistik. Das BFS zählt und publiziert laufend die Todesfälle in der Schweiz, aufgeschlüsselt nach Kalenderwoche, Kanton und Alter – aber unabhängig von der Ursache.

Mittlerweile liegen für die Wochen 1 bis 52 Daten vor. Diese sind noch provisorisch. Die offizielle Zahl der Todesfälle im Corona-Jahr wird das BFS erst in einigen Wochen bekannt geben. Doch bereits heute lässt sich errechnen: In der Schweiz sind 2020 zwischen 74'500 und 75'500 Menschen gestorben (siehe Infobox Seite 16). Zum Vergleich: 2019 waren es 67'780 Menschen – rund zehn Prozent weniger.

74'500 Tote – so hat SonntagsBlick gerechnet

Die offizielle Zahl der Todesfälle 2020 publiziert das Bundesamt für Statistik (BFS) erst in einigen Wochen. Für die einzelnen Kalenderwochen (KW) liegen aber provisorische Daten vor. Demnach verstarben in KW 1 bis 52 rund 73'700 Menschen. Folgendes muss jedoch berücksichtigt werden: In KW 1 fielen nur fünf Tage ins Jahr 2020 (ca. 350 Todesfälle weniger). In der KW 53, in der vier Tage ins Jahr 2020 fielen, kommen dagegen noch Verstorbene hinzu (ca. 950 Fälle zusätzlich). Ebenfalls hinzu kommen Hunderte Todesfälle, die nachträglich gemeldet werden. Per 8. Dezember 2020 belief sich die Zahl der Todesfälle von KW 1 bis 48 zum Beispiel auf 65'200. Per 5. Januar 2021 belief sich die Zahl für den gleichen Zeitraum dann auf 66'000 – innert Monatsfrist kamen also 800 Todesfälle hinzu.

Es ist deshalb davon auszugehen, dass es auch in den kommenden Wochen zwischen 200 bis 1200 nachträgliche Meldungen geben wird. Die Zahl der Todesfälle für das Jahr 2020 dürfte demnach zwischen 74'500 und 75'500 Todesfällen liegen. Das BFS stellt dazu keine Pro­gnosen an, taxiert die Berechnungen von SonntagsBlick aber als «nicht unrealistisch».

Die offizielle Zahl der Todesfälle 2020 publiziert das Bundesamt für Statistik (BFS) erst in einigen Wochen. Für die einzelnen Kalenderwochen (KW) liegen aber provisorische Daten vor. Demnach verstarben in KW 1 bis 52 rund 73'700 Menschen. Folgendes muss jedoch berücksichtigt werden: In KW 1 fielen nur fünf Tage ins Jahr 2020 (ca. 350 Todesfälle weniger). In der KW 53, in der vier Tage ins Jahr 2020 fielen, kommen dagegen noch Verstorbene hinzu (ca. 950 Fälle zusätzlich). Ebenfalls hinzu kommen Hunderte Todesfälle, die nachträglich gemeldet werden. Per 8. Dezember 2020 belief sich die Zahl der Todesfälle von KW 1 bis 48 zum Beispiel auf 65'200. Per 5. Januar 2021 belief sich die Zahl für den gleichen Zeitraum dann auf 66'000 – innert Monatsfrist kamen also 800 Todesfälle hinzu.

Es ist deshalb davon auszugehen, dass es auch in den kommenden Wochen zwischen 200 bis 1200 nachträgliche Meldungen geben wird. Die Zahl der Todesfälle für das Jahr 2020 dürfte demnach zwischen 74'500 und 75'500 Todesfällen liegen. Das BFS stellt dazu keine Pro­gnosen an, taxiert die Berechnungen von SonntagsBlick aber als «nicht unrealistisch».

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Dass die Verstorbenenzahl zunimmt, ist aufgrund des Bevölkerungswachstums keine Überraschung. Ein Anstieg von 10 Prozent innert Jahresfrist aber ist für die Schweiz absolut aussergewöhnlich.

Tatsächlich gab es seit 1900 nur zwei Jahre mit einem noch grösseren Anstieg: 1944, mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Und 1918, als die Spanische Grippe ­wütete. In der Schweiz stieg die Zahl der Verstorbenen damals um 40 Prozent und erreichte einen historischen Höchststand von 75'034.

«Aussergewöhnlich viele Todesfälle im Jahr 2015»

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wegen Corona ein neuer, trauriger Rekord erreicht wird. Vergleichbar sind die Zahlen dennoch nicht: Die Bevölkerung hat sich in den vergangenen 102 Jahren mehr als verdoppelt, von 3,9 auf rund 8,7 Millionen. Die Spanische Grippe war also deutlich tödlicher als Covid-19. Zudem erlagen ihr vor allem 20- bis 40-Jährige, während Corona vor allem Menschen zum Opfer fallen, die 80 Jahre oder älter sind.

Pro 1000 Einwohner gab es 2020 in der Schweiz 8,6 Todes­fälle. In den zehn vorangehenden Jahren (2010 bis 2019) betrug diese Quote im Schnitt 7,9. Ein Ausreisser war bisher das Jahr 2015 mit 8,1 Todesfällen pro 1000 Einwohner.

Was kaum jemand weiss: Bereits 2015 stiess das Gesundheitssystem an seine Grenzen. Der «Tages-Anzeiger» titelte damals im Februar: «In Lausannes Uniklinik landen Grippepatienten in Büros». Die «Basler ­Zeitung»: «Die Grippewelle – Basler Spitäler am Anschlag». Und das BFS resümierte: «Aussergewöhnlich viele Todesfälle im Jahr 2015 infolge Grippe und Hitze».

Ausnahmezustand seit November und Dezember

In der Erinnerung des Bestatters Bagorda ist 2015 noch präsent: «Es war schlimm, in der Ostschweiz starben damals deutlich mehr Menschen als in anderen Jahren.» Die aktuelle Situation aber sei dramatischer: «Jetzt begleiten wir pro Woche nochmals 30 Prozent mehr Verstorbene als damals – und das über einen längeren Zeitraum hinweg.»

Bemerkenswert: Covid-19 hatte zunächst kaum Einfluss auf Bagordas Arbeit. «Wir haben zwar bereits im Frühling Handschuhe, Schutz­anzüge und Masken angeschafft, um Corona-Tote sicher abholen zu können. Bis Ende Oktober brauchten wir dieses Material aber so gut wie nicht.» Erst die Monate November und Dezember hätten alles auf den Kopf gestellt. «Seither herrscht Ausnahmezustand. Wir kommen mit unserer Arbeit kaum nach – und bei jedem zweiten Verstorbenen brauchen wir das Schutzmaterial.»

Dreistellige Todesfallzahlen pro Woche

Die Erfahrungen des Bestatters ­decken sich mit der Statistik: Von 2015 bis Ende 2019 wurden im Kanton St. Gallen nur in elf Wochen mehr als 100 Todesfälle registriert. Trauriger Höchstwert waren 126 Verstorbene während der Grippewelle 2015. Im Oktober 2020 erfasste dann Corona den Kanton. Und seit Woche 44 sind die wöchentlichen Todesfallzahlen stets dreistellig: 117. 147. 154. 130. 152. 172. 175. 136. 143.

Die Entwicklung in St. Gallen war besonders dramatisch, in den meisten anderen Deutschschweizer Kantonen jedoch zeigt sich ein ähnliches Bild. Im Gegensatz zur Romandie und dem Tessin hatte in der Deutschschweiz erst die zweite Welle eine Übersterblichkeit zur Folge – die war allerdings so deutlich, dass sie nun auch für die gesamte Schweiz nicht mehr wegzudiskutieren ist.

Verharmloser der Pandemie sowie Kritiker der Eindämmungsmass­nahmen verlieren dadurch ihr wichtigstes Argument. Insbesondere im Sommer hatten sie in den sozialen Medien immer wieder spöttisch auf das Mortalitätsmonitoring des Bundes verwiesen.

«Habe Intensität der zweiten Welle unterschätzt»

Einer der profiliertesten Köpfe, der von Schweizer Corona-Skeptikern gefeiert wird, ist Pietro Vernazza (64), Chefarzt der Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen. Er machte sich öffentlich für einen entspannteren Umgang mit der Pandemie stark und brachte Alternativen zur Ausrottungsstrategie des Bundes ins Spiel.

Am 21. Oktober, als die zweite Welle längst angelaufen war, sagte er zudem im Ostschweizer Fernsehen TVO: «Die Lage ist gemessen an der Entwicklung der Todeszahlen nicht ernst. Ich glaube, wir werden nie mehr die Situation haben wie damals (im Frühling; Red.).»

Was sagt Vernazza heute zu diesen Aussagen? Auf Anfrage von SonntagsBlick gesteht der Infektiologe ein: «Ich habe die Intensität der zweiten Welle sicher unterschätzt. Auch die Wirksamkeit der Massnahmen hatte ich höher erwartet. Allerdings lag ich nicht so weit daneben wie jene warnenden Stimmen, die im Frühjahr dreissig- bis hunderttausend Todesopfer prognostizierten.»

Für die einen harmlos, für die anderen sehr gefährlich

Die Ermittlung der Mortalität sei komplex, denn die Population der über 70-Jährigen sei in den letzten zehn Jahren überproportional angestiegen. «Wir analysieren gerade den Einfluss dieser Tatsache und werden dann die Zahlen für 2020 abschliessend beurteilen können.»

Weiter betont Vernazza, dass er kein Corona-Verharmloser sei. Er wolle aber auch nicht in den «alarmistischen Chor» einstimmen. «Der gesellschaftliche Umgang mit Covid-19 ist genau deshalb so schwierig, weil die Infektion für viele harmlos, für andere aber gefährlich ist.» Die Schweiz müsse deshalb einen Weg finden, den sie lange Zeit aufrechterhalten könnte.

Die Kernbotschaft von Bestatter Bagorda klingt angesichts der aktuellen Situation deutlich anders: «Wer noch den kleinsten Zweifel hat an der Gefährlichkeit von Covid-19, der müsste jetzt mal einen Tag als Be­statter arbeiten können.»

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