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Road Cross wütend nach Ständeratsabstimmung zur Raserartikel-Entschärfung
«Schlag ins Gesicht aller Raseropfer und deren Angehörigen»

Die Verkehrssicherheitsstiftung Road Cross sagt, die Parlamentarier würden mit der Entschärfung des Raserartikels am Willen des Volkes vorbeipolitisieren.
Publiziert: 03.06.2022 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2022 um 07:21 Uhr
Nicolas Lurati und Ruedi Studer

Die Politik fährt einen Kuschelkurs mit Rasern, verteilt Streicheleinheiten für Bleifüsse: Wer massiv zu schnell über die Strasse donnert, kassiert nicht mehr automatisch die Minimal-Gefängnisstrafe von einem Jahr bedingt. Zu diesem Entscheid kam am Dienstag der Ständerat. Einstimmig. Die kleine Kammer entschärfte so den Raserartikel massiv.

Schon vor dem Stöckli hatte sich bereits der Nationalrat deutlich für eine Abschwächung des Raserartikels entschieden. Somit verkommt die Schlussabstimmung – möglicherweise erst in der Herbstsession – wohl zur reinen Formalität.

Dass die beiden Kammern so abgestimmt haben, kommt bei der Verkehrssicherheitsstiftung Road Cross überhaupt nicht gut an. Präsident Willi Wismer sagt zu Blick: «Der Entscheid des Parlaments zur Entschärfung des Raserartikels ist ein Schlag ins Gesicht aller Raseropfer und deren Angehörigen.»

Raser kassierten bislang mindestens ein Jahr Gefängnis bedingt. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock
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«Parlamentarier sollten Volksvertreter sein»

Er sei «wütend und enttäuscht, dass unsere Volksvertreter den Raserartikel abschwächen wollen». Damit würden sie am Willen des Volkes vorbeipolitisieren. «Dabei sollten die Parlamentarier ja die Volksvertreter sein.»

Glaubt man einer repräsentativen Umfrage mit über 1000 Personen, die Road Cross von einem «unabhängigen Anbieter» durchführen liess, ist der Wille des Volkes tatsächlich ein anderer als jener der Parlamentarier: «Das Ergebnis fiel klar aus», erklärt Wismer. «69 Prozent sagten, dass Raser weiterhin so hart bestraft werden sollen, wie es momentan der Fall ist.»

Wahrscheinlichkeit für Referendum oder Initiative gross

Ob Road Cross nun allenfalls das Gesetz mit einem Referendum bekämpft oder eine neue Initiative lanciert, müsse der Stiftungsrat entscheiden, so Wismer. «Wir werden eine Dringlichkeitssitzung abhalten. Die Wahrscheinlichkeit ist aber gross, dass wir ein Referendum oder eine Initiative gegen die Entschärfung des Raserartikels ergreifen.» Dafür müsse aber zuerst die Schlussabstimmung abgewartet werden.

Und: Für eine Unterschriftensammlung braucht es Geld. Wismer: «Was aber positiv ist: Heute gingen dafür bereits Spenden bei uns ein.»

«Aus Versehen brettert keiner mit Tempo 100 durch die Stadt»

Nicht nur bei Wismer ist der Ärger gross, auch der frühere Zürcher Staatsanwalt Jürg Boll (69) nervt sich über den Entscheid in Bundesbern. Das Parlament führe Beispiele ins Feld, die gar nicht unter die Raser-Strafnorm fallen würden. Wer mal aus Versehen zu schnell fahre, weil er beispielsweise aus nachvollziehbaren Gründen eine Tempobeschränkung übersehe, oder wegen eines echten Notfalls zu stark aufs Gas drücke, sei gar nicht davon betroffen.

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Eine Gefängnisstrafe drohe nur jenen, die mit Vorsatz rasen würden. «Aus Versehen brettert keiner mit Tempo 100 durch die Stadt», sagt der Strassenverkehrsrechtsexperte. «Und aus Irrtum fährt keiner ausserorts mit 140, sondern nimmt ein hohes Risiko in Kauf.» Boll sieht deshalb keinen Grund, die Strafe für «vorsätzliche Hochrisikofahrer» zu mildern.

«Falsches Signal»

«Das Parlament setzt mit der Lockerung ein falsches Signal», findet auch Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel (64). «Rasen ist kein Kavaliersdelikt!» Die Aargauerin hatte einst die Raser-Initiative mitlanciert und bezweifelt, dass es den richterlichen Ermessensspielraum wirklich braucht.

Trotzdem lässt sie offen, ob sie eine neue Initiative bereits unterstützen würde. «Wir müssen nun zuerst die Entwicklung der Rechtsprechung abwarten – und wenn die ‹echten› Raser zu sanft davonkommen, kann erneut eine Initiative ergriffen werden.»

Regazzi verteidigt Anpassung

Der Tessiner Nationalrat Fabio Regazzi (59) verteidigt die Streichung der Mindeststrafe. Er hat die jetzige Anpassung bereits 2015 mit einem Vorstoss angeregt. Er zeigt sich denn auch zufrieden: «Es geht darum, Richtern und Staatsanwälten einen Ermessensspielraum zuzugestehen, um einzelne Härtefälle zu vermeiden», sagt der Mitte-Politiker.

Die Maximalstrafe bleibe bei vier Jahren Haft, damit seien weiterhin harte Strafen möglich. Er betont: «Das ist kein Freipass für Raser, sondern eine Rückkehr zur Vernunft.»

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