Polizei führt jede Woche Razzien bei Schülern durch
Porno-Flut auf Schweizer Pausenplätzen

Eine wachsende Zahl Jugendlicher wird wegen verbotener Pornografie verzeigt, häufig wegen Pornos im Klassenchat oder Snapchat. In Zürich rückt die Polizei wöchentlich zur Hausdurchsuchung aus.
Publiziert: 14.01.2024 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 14.01.2024 um 08:53 Uhr
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Die Aufnahme dauert nicht einmal 20 Sekunden. Layla* kniet vor Nils*, sie bläst ihm einen. Nils hält das Ganze mit dem Handy fest. Kurz darauf landet das Video über Umwege auf Snapchat. Alle sehen, wie die 13-jährige Layla den 14-Jährigen oral befriedigt. Laylas Mutter erstattet Anzeige. Nur wenige Tage später, am Silvestermorgen 2022, rückt eine Polizeipatrouille zu Nils Elternhaus aus, stellt dessen Handy sicher und nimmt den Teenager mit auf den Posten. Gegen den 14-Jährigen läuft ein Verfahren wegen Herstellung von Kinderpornografie.

245 Jugendliche hat die Zürcher Staatsanwaltschaft 2022 wegen Pornografie verzeigt, im Jahr davor waren es 188. Landesweit ist der Trend noch deutlicher: Während 2012 erst 80 Jugendliche verurteilt wurden, waren es 2018 bereits 419. 2022 überschritt der Wert mit 1024 erstmals die 1000er-Grenze. Ein neuer Rekord.

Die jugendlichen Beschuldigten werden immer jünger. In Zürich waren die Verurteilten im Schnitt zuletzt 13,5 Jahre alt.

Eine 13-Jährige lässt sich bei intimen Handlungen filmen, das Video landet über Umwege auf Snapchat. (Symbolbild)
Foto: Illustration: Valerie Jost
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In jedem zweiten bis dritten Fall eine Hausdurchsuchung

Häufig geht es in den Verfahren darum, dass pornografische Fotos oder Videos verschickt wurden – über Snapchat, Tiktok oder Klassenchats. Aber auch explizite Gewaltdarstellungen, beispielsweise aus nächster Nähe, wie Menschen enthauptet werden, sehen Jugendanwältinnen immer wieder.

Solche Gewaltszenen sind grundsätzlich verboten, genauso wie Darstellungen mit Minderjährigen und Tieren. Kindern und Jugendlichen unter 16 darf zudem auch weiche Pornografie nicht gezeigt oder geschickt werden, egal ob von Gleichaltrigen oder Erwachsenen.

Die Strafen für Jugendliche sind zwar gemäss Gesetz gewollt milde – unter 15 Jahren ist die Höchststrafe eine zehntägige persönliche Leistung, doch die Ermittlungsmethoden fahren ein: Patrik Killer, leitender Jugendanwalt in der Stadt Zürich, schätzt, dass die Polizei in jedem zweiten bis dritten Fall eine Hausdurchsuchung macht – meistens ist eine solche für die Beweissicherung notwendig. Ein- bis zweimal pro Woche fährt in Zürich die Polizei bei einem Jugendlichen vor und durchsucht das Haus, frühmorgens, in Anwesenheit von Eltern und Geschwistern.

In der Einvernahme gibt sich der Teenager arglos

Der Fall von Layla und Nils ist echt – nur die Namen und einzelne identifizierende Details sind verfälscht. Blick hat Einsicht in anonymisierte Verfahrensakten erhalten.

Bei der Einvernahme gibt sich Nils arglos. Er habe Layla gefragt, ob er sie filmen darf, sie habe zugestimmt. Das Video sei ja nur kurz. «Ich weiss nicht, wo jetzt das Problem ist», sagt er zur Polizistin. Die Frage, weshalb er das Video überhaupt gemacht hat, kann Nils nicht beantworten: «Das war einfach eine Idee. Ich wollte es ihr schicken. Und sie hat die Idee gut gefunden.» Die Polizistin hakt nach:

Polizistin: Wieso kommst du auf diese Idee?
Nils: «Ich weiss nicht, es kam einfach in meinen Kopf.»
Polizistin: Hast du das denn schon mal so gesehen?
Nils: «Ja.»
Polizistin: Wo oder von wem?
Nils: «Überall, Kollegen, Twitter.»
Polizistin: Ist das üblich bei Jungen, dass man das filmt?
Nils: «Ja.»
Polizistin: Du bist 14, sie ist 13. Ist dir bewusst, dass du damit Kinderpornografie hergestellt hast?
Nils: «Ich wusste das nicht.»

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Was bringt Jugendliche dazu, solche Videos aufzunehmen und zu verbreiten?

Jugendanwalt Patrik Killer, der viele solcher Fälle führt, sagt: «Mädchen wünschen sich Anerkennung, bei den Jungs geht es um eine Art Trophäenjagd.»

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Auch wenn alle in der Schule lernten, was erlaubt ist und was nicht, würden Jugendliche bei der Tat selbst kaum je an die Konsequenzen denken. Zum Beispiel daran, dass eine Aufnahme, die erst einmal im Netz ist, kaum noch aufgehalten, geschweige denn gelöscht werden kann.

Nils hat der Polizei auch erzählt, wie das Video auf Snapchat gelandet sei: Nach dem Treffen mit Layla erfährt er, dass Layla mit einem anderen zusammen sein soll, dem 13-jährigen Luca. Nils trifft Luca und zwei weitere Jungs am Bahnhof Zürich-Oerlikon. Gemäss Nils fordert Luca ihn auf, das Video zu zeigen. Nils – aus Angst, geschlagen zu werden, wenn er nicht kooperiert – zeigt dieses, Luca filmt es ab und verschickt es auf Snapchat. Zur Polizei sagt Nils: Luca habe «auf seine Mutter» geschworen, dass er es nicht weiterschicke. Luca erzählt danach eine andere Version: Nils habe das Video freiwillig gezeigt und dabei gelacht. Der Schaden für Layla aber ist bereits angerichtet.

Online schauen die Eltern nicht so genau hin

Jugendanwalt Killer sagt, es sei noch nie so einfach gewesen, an pornografisches Material zu kommen. «Früher stiessen Jugendliche vielleicht beim Zeitungssammeln auf ein Sexheftli, heute haben sie zu jeder Zeit immer Zugang zu solchen Inhalten.» Das Bewusstsein dafür sei noch nicht bei allen angekommen. Die Eltern der beschuldigten Jugendlichen seien in aller Regel überrascht darüber, was ihr Kind online tue. «Man kontrolliert, wann die Kinder zu Hause sind, aber online schaut man nicht so genau hin», sagt Killer. Er spüre auch viel Unsicherheit bei Eltern, was erlaubt sei und was nicht.

Der Jugendanwalt rät Eltern, ihre Kinder auf Gefahren aufmerksam zu machen und aufzuklären, was zu tun ist, wenn sie solche Bilder erhielten. Allerdings müssten Erwachsene dafür die technischen Entwicklungen verstehen. Und: Es sei wichtig, sich mit anderen Eltern auszutauschen.

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Einige Tage nach der Hausdurchsuchung bei Nils fährt die Polizei auch bei Luca vor. Die Mutter weckt ihren schlafenden Sohn und händigt den Beamten dessen Handy aus. Vor der Jugendanwältin sagt Luca:

Anwältin: Warum hast du es abgefilmt?
«Ich glaubte es halt nicht.»
Anwältin: Was?
«Dass Layla das macht, sie ist ja erst 13.»
Anwältin: Was hattest du mit dem Video vor?
Luca: «Nichts, es war so wie ein Beweis. Leute sagten, dass es nicht stimmt. Ich habe es ihnen gezeigt und dann glaubten sie mir.»
Anwältin: Was war die Reaktion?
Luca: «Wow, sie ist ja erst 13. Sie waren wie enttäuscht. Jeder, der sie kannte, war enttäuscht von ihr.»
Anwältin: Warum hast du das Video weitergeleitet?
Luca: «Ich weiss es echt nicht.»
Anwältin: War es eine gute Idee?
Luca: «Nein.»
Anwältin: Warum?
Luca: «Es war hart für sie.»
Anwältin: Wolltest du das?
Luca: «Nicht so richtig, aber es bitzli schon.»
Anwältin: Warum?
Luca: «Sie hat mich ein paarmal beleidigt. Ich beleidigte sie auch, wir hatten ein bisschen Streit.»
Anwältin: Was denkst du über diesen Vorfall?
Luca: «Es war keine gute Idee.»
Anwältin: Hast du aus diesem Vorfall gelernt?
Luca: «Ja, sicher.»
Anwältin: Was?
Luca: «Dass man nichts weiterschicken sollte.»

Luca wird drei Monate später wegen verbotener Pornografie verurteilt und muss zur Strafe einen sogenannten Medienkurs besuchen. Dort soll er für die Gefahren sensibilisiert werden. Es wirke, sagt Killer. Er sieht die Jugendlichen meist nur einmal. Die Bilder und Videos aber, die bleiben im Netz.

* Namen geändert

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