Editorial zum Streit über Waffenlieferungen
Die spinnen, die Deutschen

Ein offener Brief deutscher Prominenter gegen Rüstungshilfe an die Ukraine wirkt verstörend – und offenbart moralische Bequemlichkeiten, mit denen man auch in der Schweiz gut lebt.
Publiziert: 08.05.2022 um 00:38 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2022 um 09:40 Uhr
Reza Rafi

Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.» Heinrich Heines Gedichtzeilen von 1844 gelten auch heute.

Was ist los im nördlichen Nachbarland? In der Bundesrepublik kämpft die kulturelle Elite per offenen Brief an den Bundeskanzler gegen Waffenlieferungen – während Ukrainerinnen und Ukrainer vergewaltigt und massakriert werden. Zu den 28 Erstunterzeichnern gehören gesellschaftliche Schwergewichte: die Literaten Martin Walser und Juli Zeh, die Kabarettisten Gerhard Polt und Dieter Nuhr, Liedermacher Reinhard Mey, Politikerin Antje Vollmer, Filmemacher Alexander Kluge, Schauspieler Lars Eidinger und, als treibende Kraft, Feminismus-Legende Alice Schwarzer.

Man reibt sich ob der irrlichternden Ikonen die Augen. Tritt hier ein kollektives Weltkriegstrauma hervor? Oder wirft der deutsche Idealismus mit Hegels finsterem Gesicht seinen Schatten?

Reza Rafi, Stv. Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier

Schwarzers Zeitschrift «Emma» hat das Schreiben letzte Woche publik gemacht. Das darin geschilderte Szenario: Wenn die Deutschen «grosse Mengen schwerer Waffen» entsenden, werden sie zur Kriegspartei, worauf Russland sie angreift und der Nato-Bündnisfall eintritt – schon haben wir den atomaren Weltkrieg.

Die Appeasement-Apostel glauben auch zu wissen, dass die Verantwortung für eine Eskalation nicht allein beim «ursprünglichen Aggressor» liege, sondern nicht zuletzt bei denjenigen, die dem Kriegstreiber im Kreml «sehenden Auges» ein Motiv liefern. Anders gesagt: Wer sich gegen Putin wehrt, trägt eine Mitschuld an dessen Verbrechen. Eine geradezu perfide Suggestion steckt im Wörtchen «ursprünglich»: Gibt es in diesem Krieg also auch einen «nicht-ursprünglichen», einen weiteren Aggressor neben Russland?

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Was haben sich die Grossintellektuellen bei dieser Formulierung gedacht?

Dass nun eine Gruppe um die Schriftsteller Herta Müller und Maxim Biller mit einem Appell für militärische Unterstützung kontert, macht den Fall nicht weniger verstörend: Kritiker erkennen in der Argumentation der Schwarzer-Truppe das Muster des «Victim Blaming», der Opferbeschuldigung. Was die Absender vehement bestreiten.

Der Aufruf blendet überdies elegant die Tatsache aus, dass die USA, Grossbritannien und die Ost-EU längst in grossem Umfang Waffenhilfe leisten – was Moskau nicht entgangen sein dürfte. In ihrer Logik müssten die Autoren des offenen Briefs eigentlich von der gesamten Nato – eiskalt, aber konsequent – einen Stopp der Lieferung schwerer Rüstungsgüter fordern. Schliesslich wollen sie den Dritten Weltkrieg verhindern.

Die Annahme jedoch, dass Putin am roten Knopf nur auf Deutschland schielt, ist wahlweise provinziell oder grössenwahnsinnig. Und bequem, nach dem Motto: Die Amis werden das schon richten. Die retten den Kontinent ja nicht zum ersten Mal! Der Yankee sorgt fürs Fressen, wir für die Moral.

Was einen eher unangenehmen Gedanken nahelegt: Hat sich diese Haltung vielleicht auch in gewissen Schweizer Gemütern eingenistet? Ist es nicht auch hierzulande beruhigend zu wissen, dass Uncle Sam Kiew mit modernstem Gerät für zig Milliarden Dollar und Aufklärung zur Seite springt? Da reicht es doch, wenn wir formell die EU-Sanktionen übernehmen! Und diskret den Rohstoffhandel weiter pflegen.

Manchmal wird die Alpenidylle tatsächlich gestört: Eine US-Behörde namens «Helsinki Commission» beschimpfte am Donnerstag die Eidgenossenschaft als «Putin-Gehilfin» und erhob den Vorwurf, sie horte Kreml-Gelder. Es ist am Bundesrat, weiteren Flurschaden zu vermeiden. Bislang aber warb das Siebnergremium seit Kriegsausbruch nur begrenzt für Vertrauen.

Immerhin wagt sich die deutsche Bundesregierung langsam an die Führungsrolle heran, die der Potenz des Landes entsprechen würde: Berlin zeigt sich offen für entschiedeneren Support der ukrainischen Streitkräfte. Die Quittung: Olaf Scholz wurde an seiner 1.-Mai-Rede ausgebuht und niedergebrüllt.

Die spinnen, die Deutschen. Und nicht nur die.

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