Prozess in Moutier BE
Welche Rolle spielt der Kanun in der Schweiz?

Der Fall in Moutier BE wirft die Frage auf, wie fest das kosovarische Gewohnheitsrecht noch in der Gemeinschaft verankert ist. Expertin Anu Sivaganesan sieht den Einfluss des Kanuns schwinden, beobachtet aber eine Zunahme islamistischer Einflüsse aus Saudi-Arabien.
Publiziert: 08.11.2022 um 08:45 Uhr
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Aktualisiert: 08.11.2022 um 08:50 Uhr
Joschka Schaffner

Menschenhandel, Zwangsheirat und sexualisierte Gewalt: Während 16 Jahren wurden vier Frauen in Moutier BE wie Sklavinnen behandelt. Sie wurden vom Balkan in die Schweiz gebracht – als Ehefrauen für die vier Söhne eines Kosovaren. Seit Montag stehen die Beschuldigten vor Gericht.

Der Anwalt der Opfer sieht hinter der unmenschlichen Tat das albanische Gewohnheitsrecht Kanun. Der Kanun ist ein hauptsächlich mündlich überliefertes, jahrhundertealtes Gesetz, welches das tägliche Leben regeln soll. Es sieht Blutrache, drakonische Strafen und archaische Rollenbilder vor.

Modernisierung verdrängt Gewohnheitsrecht

Doch inwiefern sind die Prinzipien des Kanuns in der Balkan-Gemeinschaft verankert? In einer Befragung der kosovarischen Diaspora durch das Bundesamt für Migration kam dieses bereits 2012 zum Schluss, dass der Kanun «sowohl im Kosovo als auch innerhalb der kosovarischen Bevölkerung insgesamt nur noch eine marginale Rolle» spiele. Die Modernisierung der Gesellschaft, vor allem in der Hauptstadt Pristina, verdrängt das Gewohnheitsrecht.

Gemäss Juristin Anu Sivaganesan, Präsidentin des Vereins Migration & Menschenrechte sowie der Fachstelle Zwangsheirat, schwindet die Bedeutung des Kanuns in der kosovarischen Gesellschaft. Auch in der Schweiz wehren sich junge Kosovaren gegen traditionalistische Vorgaben.
Foto: Jakob Ineichen
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Für Anu Sivaganesan (35), Juristin und Präsidentin des Vereins Migration & Menschenrechte, ist es nicht ganz so einfach. Während die vielfältige Hauptstadt kulturell und gesellschaftlich fortgeschritten sei, sehe es andernorts ganz anders aus. «In bestimmten Gegenden im Kosovo erleben das Gewohnheitsrecht und religiöse Traditionen sogar ein gewisses Revival.»

Zeigt sich dieses Revival auch in der kosovarischen Diaspora in der Schweiz? Përparim Avdili (35), Präsident der Stadtzürcher FDP, verneint: «Kanun ist in unserer Gemeinschaft kein Thema. Solche Kriminaldelikte sind tragische Einzelfälle, die mit aller Härte bestraft werden müssen.»

Patriarchale Strukturen und Gewaltverbrechen seien kein kosovarisches Problem. «Es gibt leider in allen Gesellschaften Personen, die so denken und handeln», sagt Avdili. Die kosovarische Community teile die Wertvorstellungen der Schweiz und respektiere die hiesigen Gesetze. «Die meisten Kosovo-Albaner leben bereits in zweiter oder dritter Generation hier. Wir streben genauso nach einer liberalen Gesellschaft», erläutert Avdili. Eine Parallelgesellschaft, wie oft behauptet würde, gäbe es nicht.

Junge Kosovaren wehren sich

Dennoch passieren in der Schweiz Gewaltdelikte und Femizide, in denen sich Täter auf den Kanun beziehen. Auch Zwangsheiraten sind ein Thema. Anu Sivaganesan, die eine nationale Fachstelle zum Thema Zwangsheirat leitet, sagt: «Bei unseren Fällen machten 2021 kosovarische Betroffene die zweitgrösste Gruppe aus – diese jungen Menschen melden sich, weil sie Einschränkungen und Vorgaben nicht mehr hinnehmen wollen.»

Dies sei aber ein positives Zeichen: «Es herrscht Aufbruchstimmung. Sehr interessant ist bei dieser Betroffenengruppe zudem, dass jeder dritte Betroffene männlich ist. In keiner anderen Gruppe haben wir so viele Männer, die sich gegen eine Zwangsheirat zur Wehr setzen. Auch das zeigt eine gewisse Veränderung.»

Patriarchat nicht nur ein kosovarisches Problem

Sivaganesan sieht die patriarchalen Strukturen nicht als kosovarisches Problem. Sie seien in allen Gesellschaften der Welt zu finden. Besorgt zeigt sie sich über eine andere Entwicklung: Der Kosovo befindet sich in einer Wirtschaftskrise. Saudi-Arabien versucht systematisch seine wirtschaftlichen und religiösen Einflüsse auszubauen. «Der Wahhabismus drängt den fortschrittlichen Kosovo teilweise zurück», sagt Sivaganesan.

Die strengen, islamischen Regeln würden dazu führen, dass etwa die Verheiratung von Minderjährigen zunimmt. Die kosovarische Regierung sei bemüht, dagegen vorzugehen. «Solche Tendenzen in bestimmten Teilen Kosovos finden auch in der Schweiz einen gewissen Niederschlag», erläutert Sivaganesan.

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Anwalt der Opfer:«Sie kamen in die Schweiz und wurden sofort vergewaltigt»
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