Beim Namen Tschanun sahen Zürcher Beamte rot
Deshalb zahlte Appenzell Ausserrhoden die IV-Rente des Mörders

Günther Tschanun (†73) bekam eine Inkognito-Rente von 2500 Franken pro Monat, ausbezahlt über den Kanton Appenzell Ausserrhoden. Auch, weil die Zürcher Behörden Angst vor schlechter Presse hatten – und mit dem Namen Tschanun fremdelten.
Publiziert: 16.04.2021 um 01:41 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2021 um 22:58 Uhr
Günther Tschanun erschoss 1986 als Chef der Zürcher Baupolizei vier Mitarbeiter.
Foto: Keystone
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Michael Sahli

Nach seiner Haftentlassung war Vierfachmörder Günther Tschanun (†73) wie vom Erdboden verschluckt. Dass er in seinem Tessiner Versteck unentdeckt blieb, war den Zürcher Behörden einen enormen Aufwand wert: Tschanun bekam einen neuen Namen und eine Invalidenrente, die inkognito über einen anderen Kanton ausbezahlt wurde (Blick berichtete). 2500 Franken pro Monat – ab dem Jahr 2002 bis zum Tod im Jahr 2015.

Die Dokumente von damals zeigen: Die Zürcher IV-Beamten wollten mit dem Fall so wenig wie möglich zu tun haben.

Konkret: Die Zürcher IV-Stelle erklärte sich gleich für befangen, um den Fall abzugeben. «Dies im Wesentlichen wegen des Bekanntheitsgrads von Herrn Tschanun im Kanton», heisst es in einem Schreiben von der Zürcher IV-Stelle an die Zürcher Justizdirektion im Jahr 2001.

Zürich hatte Angst vor Mauschelei-Vorwurf

Zwar habe die zuständige Aufsichtsbehörde eine Befangenheit verneint, heisst es weiter. Den Beamten ist beim Gedanken an den Vierfachmörder aber trotzdem nicht wohl. Bei einer Zusprache der IV seien «reisserische Pressestorys, zum Beispiel über Behördengemauschel», zu erwarten, wird im Brief argumentiert.

Die Antwort folgt Wochen später: Man sei einverstanden, wenn der «Sonderfall» einer anderen IV-Stelle zur Bearbeitung übergeben werden könne. Das Dossier landete am Schluss im Kanton Appenzell Ausserrhoden.

Nicht nur die Zürcher Behörden, auch Tschanun selber hatte grosse Angst vor Fragen von Journalisten, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet.

So habe im Jahr 2008 ein geplantes Filmprojekt des Berner Filmemachers Cihan Inan regelrecht Panik beim Mörder ausgelöst. Die Medienöffentlichkeit sei für ihn eine «Form der Gewalt», wird er zitiert. «Es wird nicht um ehrliche Recherche, sondern um reisserische Titelgeschichten gehen», sagte er seiner Bewährungshelferin.

Die macht sich Sorgen, dass ihr Klient wieder durchdrehen könnte: «Was, wenn er in einem akuten Moment Regisseur/Presse aufsucht und diese ihn nicht gemäss seinen Erwartungen und Vorstellungen behandeln? Wenn er daraufhin jemanden verletzt, schlimmstenfalls erschiesst?» Die Sorge teilt auch Psychiater Frank Urbaniok, der damals mit dem Fall betraut war.

So lebte der Vierfachmörder Günther Tschanun
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Der Fokus auf Blick TV:So lebte der Vierfachmörder Günther Tschanun

Wütender Tschanun schickt 500 Franken zurück

Pikant: Mitarbeiter der Bewährungsdienste überlegen sich sogar, wie man auf den Inhalt des Drehbuchs Einfluss nehmen könnte.

Für den Fall, dass die Presse Wind von der neuen Identität des Mörders bekommt, wurden Notfallszenarien ausgearbeitet: In diesem Fall solle Tschanun nach Como (I) flüchten, so ein Plan der Vollzugsdienste. Der Mörder reagierte darauf beleidigt, nannte den Plan «halbherzig». Und schickte 500 Franken zurück, die man ihm für den Fall der Fälle zur Verfügung stellte.

Die Sorge war umsonst: Der neue Identität des Mörders flog erst nach seinem Tod auf. Und die Rückfall-Befürchtungen von Bewährungshelferin und Psychiatern blieben eine böse Vorahnung.

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