«Karin Keller-Sutter sagt nur die halbe Wahrheit»
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13. Juni: Anti-Terror-Gesetz:«Karin Keller-Sutter sagt nur die halbe Wahrheit»

Abstimmung vom 13. Juni: Anti-Terror-Gesetz
«Karin Keller-Sutter sagt nur die halbe Wahrheit»

Sie ist eloquent, unbequem und bekämpft an vorderster Front das Anti-Terror-Gesetz, über das wir im Juni abstimmen: Die Juristin Sanija Ameti (28) sagt im Interview, warum sie einen Polizeistaat befürchtet und was das mit ihrer Familiengeschichte zu tun hat.
Publiziert: 24.05.2021 um 01:42 Uhr
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Aktualisiert: 24.05.2021 um 09:42 Uhr
Sanija Ameti bekämpft das Anti-Terror-Gesetz. Sie ist der Kopf des Referendumskomitees, die dieses an die Urne brachte.
Foto: Valeriano Di Domenico
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Interview: Rebecca Wyss

Wie gut schlafen Sie derzeit?
Sanija Ameti: Ich schlafe gut, weil ich so übermüdet bin. Wegen der Abstimmung habe ich fast jeden Abend Sitzungen, organisiere Aktionen, verteile Flyer. Von Mitternacht bis um zwei Uhr mache ich Pressearbeit oder schreibe Argumentarien. Dann falle ich todmüde ins Bett.

Ich frage, weil gemäss einer Umfrage 68 Prozent für das Gesetz sind. Nagt das an Ihnen?
Ja. Viele haben sich das Gesetz nicht richtig angesehen. Sie lesen nur den Slogan «Terrorismus bekämpfen, bevor es zu spät ist» – klar, dass sie dafür sind. Bei mir war das erst auch so.

Warum sind Sie jetzt dagegen?
Man muss nicht zwingend eine Straftat begehen und auch keine planen, man kann nur auf Basis von sehr, sehr schwammigen Anhaltspunkten als gefährlich eingestuft und mit Massnahmen belegt werden. Man muss sich das mal vor Augen halten: Man kann mit dem Gesetz einem 15-Jährigen die Freiheit entziehen, ihn also monatelang unter Hausarrest stellen – ohne dass er eine Straftat überhaupt vorbereitet oder im Sinn hatte. Wo bleibt da die Unschuldsvermutung? Damit nehmen wir den Terroristen die Arbeit ab.

Das Anti-Terror-Gesetz

Am 13. Juni kommt das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) an die Urne. Als terroristischer Gefährder gilt, «wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird». Das Bundesamt für Polizei könnte Massnahmen wie etwa eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht, ein Kontakt- und Ausreiseverbot sowie Hausarrest von bis zu neun Monaten verfügen. Der Grossteil dieser Massnahmen wäre für Leute ab 12 Jahren möglich, einzig der Hausarrest ab 15 Jahren. Bundesrat und Parlament empfehlen, die Vorlage anzunehmen.

Am 13. Juni kommt das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) an die Urne. Als terroristischer Gefährder gilt, «wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird». Das Bundesamt für Polizei könnte Massnahmen wie etwa eine Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht, ein Kontakt- und Ausreiseverbot sowie Hausarrest von bis zu neun Monaten verfügen. Der Grossteil dieser Massnahmen wäre für Leute ab 12 Jahren möglich, einzig der Hausarrest ab 15 Jahren. Bundesrat und Parlament empfehlen, die Vorlage anzunehmen.

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Jetzt übertreiben Sie.
Überhaupt nicht. Mit dem Gesetz würden wir die Freiheitsrechte abschaffen, für die wir gekämpft haben. Übrigens protestierten der Europarat, die Uno und unser eigenes Aussendepartement wegen der ausufernden Definition.

Justizministerin Karin Keller-Sutter sagt aber, dass das Gesetz die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzt – ein Gutachten bescheinige das.
Das stimmt nicht. Sie unterschlägt, dass im besagten Gutachten unter Ziffer 127 steht, dass der Hausarrest nicht zulässig ist. Das ist aber wenig bekannt, weil die 91 Seiten des Gutachtens kaum jemand liest. Genau wegen solcher Irreführungen machen wir jetzt eine Stimmrechtsbeschwerde.

Was ist mit ausufernd gemeint? Wo liegt das Problem bei der Terrorismus-Definition?
Es trifft gar nicht die Terroristen. Damit geraten alle ins Visier, die sich kritisch äussern und unbequem sind. Zum Beispiel Politiker, Journalisten, Corona-Leugner oder Klima-Jugendliche.

Die Justizministerin sagte aber dem «Tages-Anzeiger», im Gesetz würden terroristische Aktivitäten so definiert: Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Anordnung von schweren Straftaten erfolgen. «Wir reden hier also von Leuten, die mit Messern Passanten niederstechen oder mit Autos in Menschenmengen fahren, um möglichst viele Menschen zu töten.»
Karin Keller-Sutter sagt nur die halbe Wahrheit. Im Gesetz steht: Ein Terrorist ist, wer eine Straftat androht oder begeht – und jetzt kommts – oder Furcht und Schrecken verbreitet und damit die staatliche Ordnung beeinflussen will. Sie verschweigt den schwammigen Teil mit «oder Furcht und Schrecken verbreitet». Das macht sie permanent. Damit die Bevölkerung nicht merkt, dass es nicht nur um Leute geht, die mit dem Messer auf Passanten losgehen. Sondern um alle, die den Staat kritisieren. Haben Sie sich schon mal gefragt, wieso man das Gesetz so schwammig formuliert hat?

Nein, was ist Ihre Erklärung?
Es geht um staatliche Kontrolle. Der Staat will so viele von uns wie möglich in Datenbanken erfassen.

Befürchten Sie einen neuen Fichen-Staat?
Ja. Bei den Fichen gab man vor, gegen Kommunisten vorzugehen. Am Ende landeten 900’000 Schweizerinnen und Schweizer bis weit ins bürgerliche Lager hinein in den Karteien. Damals war die Fiche ein Zettelkasten. Jetzt wäre es eine sehr detaillierte Datensammlung. Das Bundesamt für Polizei, Fedpol, würde darüber verfügen. Und was mir Sorgen macht: Es würde darauf basierend im Alleingang Massnahmen anordnen, also ohne von einer anderen Instanz – einem Gericht – kontrolliert zu werden.

Von was für Daten sprechen wir?
Das Fedpol dürfte unter anderem sogenannte besonders schützenswerte Personendaten erfassen. Zu diesen gehören der Gesundheitszustand und die Mitgliedschaft in einer Partei oder in einem Verein. Ein Algorithmus berechnet dann mit diesen Daten, wer ein Gefährder ist. Und zwar nach bestimmten Kriterien.

Was für Kriterien?
Das liegt auf der Hand. Der Algorithmus würde alle herausfiltern, die etwa dunkelhäutig, muslimisch sind, eine Waffe besitzen – auch Sportschützen – und eine psychische Erkrankung haben. Er würde Menschen diskriminieren.

Die Widerständige

Sanija Ameti wurde 1993 im ehemaligen Jugoslawien, dem heutigen Bosnien, geboren. Die Familie flüchtete wegen des Jugoslawienkriegs in die Schweiz. Ihr Vater war ein muslimischer oppositioneller Politiker und war verfolgt worden. Das prägte die junge Frau: Sie studierte Staats- und Völkerrecht. Heute forscht sie an der Universität Bern zu Cybersicherheit, sitzt in der Parteileitung der GLP Kanton Zürich und ist Kopf des Referendumskomitees gegen das Anti-​Terror-Gesetz. Das Referendum kam dank der Covid-Gesetz-Gegner «Freunde der Verfassung» zustande. Sanija Ameti wohnt mit ihrem Partner in Zürich.

Valeriano Di Domenico

Sanija Ameti wurde 1993 im ehemaligen Jugoslawien, dem heutigen Bosnien, geboren. Die Familie flüchtete wegen des Jugoslawienkriegs in die Schweiz. Ihr Vater war ein muslimischer oppositioneller Politiker und war verfolgt worden. Das prägte die junge Frau: Sie studierte Staats- und Völkerrecht. Heute forscht sie an der Universität Bern zu Cybersicherheit, sitzt in der Parteileitung der GLP Kanton Zürich und ist Kopf des Referendumskomitees gegen das Anti-​Terror-Gesetz. Das Referendum kam dank der Covid-Gesetz-Gegner «Freunde der Verfassung» zustande. Sanija Ameti wohnt mit ihrem Partner in Zürich.

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Und ich bin unbequem und politisch aktiv. Solche Leute mag man nicht. Das hat man an der Frauen-Demo am 6. März gesehen, als in Zürich Polizisten auf eine Frau einschlugen. Wird das Gesetz angenommen, bleibt uns nur noch zu hoffen, dass die ausführenden Polizisten Hemmungen haben. Dass sie ihre Macht nicht missbrauchen. Mani Matter hat das schon in «Hemmige» besungen: «Und was me no cha hoffen isch alei, dass si Hemmige hei.» Wer das Gesetz befürwortet, hat ein zu grosses Gottvertrauen in den Menschen und in die Polizei.

Man könnte auch fragen: Warum sind Sie so misstrauisch?
Weil auch wir in der Schweiz nur Menschen sind. Warum sollten wir empathischer und klüger sein als die Menschen im ehemaligen Jugoslawien?

Von dort stammt Ihre Familie.
Ja, meine Eltern flüchteten aus einem Polizeistaat.

Weshalb?
Die Polizei brach eines Nachts bei uns ein und nahm meinen Vater mit. Weil er ein oppositioneller muslimischer Politiker war. Jahre zuvor waren die Leute, die ihn weghaben wollten, die besten Freunde meiner Eltern. Niemand von uns hatte sich vorstellen können, dass es je so weit kommen würde. Wir sagten das Gleiche, das man heute in der Schweiz hört: So etwas passiert uns nicht, wir sind doch keine Dattel-Republik. Und dann kam es zum Genozid.

Das Srebrenica-Massaker an über 8000 muslimischen Männern in Bosnien.
Ja, 1995, mitten in Europa. Dieser Genozid, dieser Horror hat mich geprägt. Meine Eltern kamen in die Schweiz, weil sie glaubten, der Rechtsstaat gelte hier für alle. Wenn wir das Gesetz nicht verbessern, geht es zehn, zwanzig Jahre, und wir sind an einem ähnlichen Punkt wie Jugoslawien damals. Nicht, weil wir böse sind, sondern, weil wir Menschen sind.

Sie haben Migrationshintergrund, machen als Politikerin und Juristin Karriere. Warum gibts das nicht öfter?
Wir haben ein falsches Bild im Kopf. Manche sagen ganz erstaunt zu mir: «Ah, du bist nicht hier geboren, du sprichst aber gut Deutsch.»

Doch an den Unis studieren viel weniger Hakans als Julians. Warum?
Es fehlt die Chancengleichheit. Ich hatte das Glück, dass mein Vater Akademiker ist und er darauf drängte, dass auch seine Kinder welche werden. Ich wollte Kunstgeschichte studieren, er sagte: «Ich bin nicht in die Schweiz gekommen, damit du Kunst machst, du kannst Arzt oder Anwalt werden.» Ich bin ein pragmatischer Mensch, ich studierte Jus und fand das auch interessant.

Was bräuchte es, damit es auch andere schaffen?
Es bräuchte politische Rechte. Menschen mit Migrationshintergrund sollten in ihrer Gemeinde ein EinwohnerInnen-Stimmrecht haben. Dann würden sie sich stärker mit ihrem Wohnort identifizieren, sich dort engagieren und sich schneller integrieren.

Cybersicherheit ist Ihr Fachgebiet. Im März hat das Nationale Zentrum für Cybersicherheit über 3000 Unternehmen angeschrieben, weil sie gehackt worden sind. Die Hacker verlangen jeweils Lösegeld. Passiert das bei uns häufig?
Das passiert täglich. Weltweit gehen den Unternehmen aufgrund von Cyberangriffen jährlich rund 600 Milliarden US-Dollar verloren. Für die Schweiz gibt es keine Zahlen. Aber gerade sie ist ein beliebtes Ziel, weil hier mehr Geld zu holen ist als anderswo.

Warum hört man davon nur selten?
Würden die Unternehmen einen Angriff offenlegen, würde es heissen: Ihr habt eure Sicherheit nicht im Griff. Das wäre schlecht fürs Geschäft.

Welche Unternehmen trifft es?
Viele KMU. Weil sie denken, dass sie sowieso niemand angreift. Sie investieren zu wenig in die Sicherheit, schulen ihr Personal nicht richtig. Die meisten Angriffe passieren, weil ein Mitarbeiter ein falsches E-Mail aufmacht, dann gibt es einen System-Shutdown. Oder es wird eine Spionagesoftware eingeschleust, um damit jahrelang Daten abzusaugen.

Kürzlich legten Hacker die grösste Sprit-Pipeline der USA lahm. Wäre so etwas auch bei uns möglich?
Denkbar ist ein Stromausfall. Oder dass die Systeme eines ganzen Spitals ausfallen. Gerade Spitäler sind schlecht gerüstet. Und vergangenen Sommer kam in einem Bericht aus, dass ausgerechnet die Führungsunterstützungsbasis (FUB), die Einheit innerhalb der Schweizer Armee, die offiziell Cyberangriffe ausführen darf, selbst nicht gut gegen Hackerangriffe gerüstet ist.

Wir sprachen über drohende Gefahren, dunkle Mächte. Was ist für Sie eigentlich das Böse?
Das Böse ist so banal, dass wir es gar nicht erkennen. Der US-Soldat, der in den Irak-Krieg zog und meinte, er kämpfe gegen Terroristen, um das irakische Volk zu retten. Am Ende folterte er aber selbst Menschen. Oder der Fedpol-Polizist, der meint, dem Land einen Dienst zu erweisen und dann Unschuldige als zukünftige Terroristen behandelt. Er foltert zwar nicht, zerstört aber Leben. Das macht das PMT-Gesetz so gefährlich.

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