«Wir müssen nun Arbeitsplätze ins Ausland verlagern»
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Nach Aus des Rahmenabkommens:«Wir müssen nun Arbeitsplätze ins Ausland verlagern»

Wegen Aus des Rahmenabkommens
Erste Forscher und Firmen ziehen weg

Die Folge des Verhandlungsabbruchs mit Brüssel: Erste Firmen verlagern Arbeitsplätze aus der Schweiz ins EU-Ausland.
Publiziert: 09.10.2022 um 13:05 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2022 um 13:06 Uhr
Camilla Alabor

Grégoire Ribordy (51) studierte noch, als ihm der Gedanke kam, eine Firma zu gründen. Er schrieb sich für einen Kurs in Betriebswirtschaft ein. Heimlich, denn er befürchtete, sein Professor an der Uni Genf hätte keine Freude daran, wenn er neben seiner Doktorarbeit über experimentelle Quantenkryptografie ein zweites Studium in Angriff nähme. Doch die Angst war unbegründet: Ribordy schloss beide Ausbildungen erfolgreich ab – der Doktorvater wurde sogar Mitgründer seines Unternehmens ID Quantique, das sich auf quantensichere Netzwerkverschlüsselung spezialisiert. Das war im Jahr 2001.

Heute, 20 Jahre später, gibt es ID Quantique noch immer: das Unternehmen ist in seinem Bereich Weltmarktführer. Von China abgesehen, beläuft sich der Marktanteil der Genfer Firma auf über 80 Prozent.

Schlechte Aussichten

Nur: Die Aussichten, dass dies so bleibt, sind schlecht. Grund ist der abrupte Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU – und die Reaktionen darauf. Brüssel hat die Schweiz vom EU-Forschungsprogramm Horizon ausgeschlossen. Sie gilt derzeit als Drittstaat. Auch zu Digital Europe, einem Förderprogramm für digitalen Wandel, hat die Schweiz heute keinen Zugang mehr.

Grégoire Ribordy ist Gründer von ID Quantique: Das Unternehmen ist in seinem Bereich Weltmarktführer. Noch.
Foto: Philippe Rossier
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Für Ribordy bringt das handfeste Nachteile mit sich. «Durch den Ausschluss von Digital Europe fehlen uns wichtige Mittel, um Recherche und Entwicklung voranzutreiben», sagt der Genfer, dessen Firma früher regelmässig an europäischen Förderprogrammen beteiligt war.

Arbeitsplätze im Ausland nötig

Und es kommt noch ärger: Die EU pusht mit ihren Programmen nun die direkten Konkurrenten von ID Quantique in ihren Mitgliedstaaten. Schliesslich möchte sie künftig selbst im Besitz der entsprechenden Technologien sein – die Quantenforschung gilt als ein Bereich, in dem Brüssel strategische Autonomie anstrebt.

Kommentar über das Verhältnis mit EU

ID Quantique sah sich deshalb gezwungen, neue Arbeitsplätze in Wien zu schaffen statt in Genf. Rund ein Zehntel ihrer Belegschaft hat die Firma jetzt in Österreich. Ribordy schliesst einen kompletten Umzug nicht aus: «Wir brauchen Zugang zum europäischen Markt. Falls die EU uns als Schweizer Unternehmen davon ausschliessen will, wird es für uns schwierig.»

Das schmerzt Ribordy um so mehr, als die Schweiz für ihn der perfekte Standort wäre, um die Quantentechnologie weiterzuentwickeln. «Hierzulande funktioniert der Transfer von Spitzentechnologien von den Hochschulen zu Start-ups ausgezeichnet, da gehören wir weltweit zu den Besten», sagt Ribordy. «Aber wir sind daran, den Anschluss zu verlieren.»

Auch Universitäten leiden

Neben der Wirtschaft leiden auch die Universitäten unter dem Ausschluss von Horizon und Digital Europe. Bereits bekannt ist, dass Schweizer Wissenschaftlerinnen keine Projekte mehr leiten dürfen. Doch nun zeigt sich: Allein die Teilnahme von Forschern oder Unternehmen aus der Schweiz kann dazu führen, dass die EU ein Projekt ablehnt.

Darauf deuten zwei Konflikte in diesem Frühling hin, bei denen die ETH Lausanne die Leidtragende war. In beiden Fällen hatten Schweizer Forscher und Start-ups mit europäischen Kollegen Förderungsanträge im Bereich der Quantenwissenschaften gestellt. Das Projekt QuantEO erreichte in der Bewertung der EU-Kommission 13,5 von 15 möglichen Punkten, ein exzellenter Wert – dennoch lehnte Brüssel die Finanzierung des Projekts ab, an dem auch eine niederländische und eine österreichische Uni beteiligt sind.

Politische Gründe stehen im Weg

Als einzigen «schwerwiegenden Mangel» nennt die EU-Kommission die Tatsache, dass ein wichtiger Teil der Forschung «ausserhalb der EU» stattfinde – in der Schweiz. So heisst es im Evaluationsbericht, der SonntagsBlick vorliegt.

Ein zweites Vorhaben in der Quantentechnologie, ein Projekt namens Leone, lehnte die EU-Kommission im Mai trotz sehr guter Bewertung ebenfalls ab. Aus Sicht von Brüssel stellte die Teilnahme eines Schweizer Spin-offs der EPFL einen «Mangel» dar.

In anderen Worten: Selbst wenn hiesige Wissenschaftler oder Unternehmen über gefragte Technologien verfügen, kommen sie aus politischen Gründen nicht zum Zug. Für Schweizer Hochschulen ist das verheerend. Bisher waren die beiden ETH und die Uni Genf in der Quantenwissenschaft führend in Europa. Diese Position dürfte bald verloren gehen – just in einem Bereich, der als besonders zukunftsträchtig gilt: Dank Quantentechnologie können etwa enorm leistungsfähige Computer entwickelt werden.

Verlust an Attraktivität

Die Negativspirale dreht sich bereits. Dürfen hiesige Institute keine EU-Projekte mehr leiten oder daran teilnehmen, verlieren sie an Attraktivität. Und leidet ihr Ruf, macht sie das für internationale Spitzenforschende weniger interessant.

EPFL-Sprecherin Corinne Feuz stellt fest: «Es gab mehrere Fälle, in denen ausländische Hochschulen unsere Forscher abwerben wollten.» Bisher sei es dank Gegen-Angeboten gelungen, die Professoren in der Schweiz zu halten. Doch der Trend bereitet der Hochschule Sorgen. Feuz kennt einen Fall, in dem ein angefragter Forscher unter anderem wegen der Rückstufung der Schweiz bei Horizon nicht nach Lausanne VD kommen wollte. Ihr Fazit: «Wenn sich herumspricht, dass die Schweiz von den europäischen Programmen ganz ausgeschlossen ist, haben wir ein Problem.»

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