Feldarbeit in der Armenerziehungsanstalt «Dorneren» ob Wattenwil im Berner Gürbetal (Aufnahme vom Juli 1954).
Foto: Walter Studer

Verdingkinder und administrativ Versorgte
Erst 2010 fanden sie Gehör

Bis weit ins letzte Jahrhundert hinein verdingte und versorgte der Staat Kinder und junge Leute. Beide bekamen als Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen eine Entschädigung.
Publiziert: 16.07.2019 um 23:30 Uhr
Bis weit ins letzte Jahrhundert platzierten die Behörden Kinder bei Familien, um zu arbeiten. Meist waren es Bauernfamilien.
Foto: Walter Studer
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Rebecca Wyss

Die Schweiz hat jahrzehntelang Menschen eingesperrt oder verdingt. Sie sind Opfer der gleichen Praxis: der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Doch es gibt Unterschiede.

Bei der Verdingung verteilten die Behörden Kinder als Arbeitskraft auf verschiedene Familien. Weil sie aus armen oder zerrütteten Familien stammten, unehelich geboren oder elternlos waren.

Verdingkinder wie Vieh unter Bauern versteigert

Bis in die 20er-Jahre versteigerten die Behörden Kinder auch auf Auktionen. Die Bauern, die am wenigsten Pflegegeld wollten, bekamen oft den Zuschlag. Auf den Bauernhöfen arbeiteten sie als Knechte. Sie wurden misshandelt und teils sogar sexuell missbraucht. Wie viele Kinder betroffen sind, ist unbekannt, Schätzungen gehen von Hunderttausenden aus.

Der Spielfilm «Der Verdingbub», die frühere Wanderausstellung «Verdingkinder reden» und zahlreiche Forschungsarbeiten arbeiten das dunkle Kapitel auf. Die Verdingpraxis endete erst spät, mit der Revision des Kindesrechts von 1978.

Die Praxis der administrativen Versorgung wurde erst 1981 abgeschafft

Ähnlich sah es bei der administrativen Versorgung aus. Diese Praxis wurde 1981 abgeschafft – auf Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Behörden hatten es meist auf junge Menschen abgesehen. Rund 60’000 von ihnen versorgten sie in Zwangsarbeitsanstalten, Psychiatrien, Strafanstalten oder Erziehungsheimen. Ohne dass diese eine Straftat begangen hätten. Nur weil sie gegen soziale Normen verstiessen: unehelich schwanger wurden, gerne ihren Feierabend in der Beiz verbrachten.

Mit den Massnahmen wollte man die Männer und Frauen umerziehen. Diese Entscheide fällten Hausfrauen, Buchhalter oder Bäcker am Feierabend als Gemeinderäte, Schulkommissionsmitglieder oder Vormünder.

In den Anstalten schufteten die Zwangsversorgten für Firmen wie die Micarna, die Fleischproduzentin der Migros, oder für Automatenhersteller Selecta. Das machte kürzlich der SonntagsBlick publik.

Erst 2010 kam die Aufarbeitung ins Rollen

Die Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen kämpften lange für eine Aufarbeitung. Erst 2010 fanden sie Gehör: Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf entschuldigte sich im Namen des Bundes zuerst einmal bei den administrativ Versorgten. Drei Jahre später bat Simonetta Sommaruga die ehemaligen Verdingkindern um Verzeihung.

2014 trat das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft. Das ermöglichte auch die wissenschaftliche Aufarbeitung von deren Leid. Zudem erhielten alle Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen eine Wiedergutmachung von je 25'000 Franken.

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