Weggesperrt und ausgebeutet
So lief das Geschäft mit den Zwangsarbeitern

Zehntausende junge Männer und Frauen wurden unschuldig ihrer Freiheit beraubt. Historiker zeigen nun, wer sie als Zwangsarbeiter beschäftigte: Firmen wie Micarna und Selecta sind dabei.
Publiziert: 29.06.2019 um 23:14 Uhr
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Aktualisiert: 30.06.2019 um 09:33 Uhr
Tobias Marti

Rechtschaffenen Behördenvertretern waren sie ein Graus, man hielt sie für den Bodensatz der Schweizer Gesellschaft: junge Männer und Frauen, die gegen soziale Normen verstiessen, Waisenkinder und Uneheliche aus armen Familien, Süchtige und Pros­tituierte. Die Beamten stempelten diese Menschen als «sittlich gefährdet», «verwahrlost», «geistig abnorm, aber arbeitsfähig» ab. «Müssiggang», «Arbeitsscheu, Liederlichkeit und unsittlicher Lebenswandel» galten als Gefahr fürs Vaterland.

Ohne Prozess, ohne Urteil, ohne Gnade

Deshalb wurden sie weggesperrt. Für Wochen, Monate, Jahre. Ohne jemals eine Straftat begangen zu haben, ohne Prozess, ohne Urteil. Einfach, weil ihr Vormund – meist angesehene Mitglieder der Gesellschaft – das befahl. Administra- tive Versorgung nennt sich dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte. Mindestens 60'000 Menschen landeten im vergangenen Jahrhundert unschuldig in Psychiatrien, Strafanstalten, Erziehungsheimen, Zwangsarbeitsanstalten.

Zwangsarbeit: Der Name war Programm. Die Jugendlichen schufteten in der hauseigenen Wäscherei, malochten in der Landwirtschaft, wurden in Fabriken gesteckt. Oft sieben Tage pro Woche. «Das System diente der Nacherziehung durch Arbeit, eine Disziplinierungsmassnahme», sagt Alix Heiniger. Die Wissenschaftlerin gehört zur Unabhängigen Expertenkommission (UEK), die den Skandal im Auftrag des Bundesrats aufarbeitet.

Aufnahme aus dem Jahr 1965 der Micarna in Courtepin FR. Hier arbeiteten administrativ versorgte Menschen.
Foto: Keystone
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Erstmals wird nun bekannt, wie die Quälanstalten mit Privaten, Firmen und Behörden geschäfteten. Wer profitierte von der Zwangsarbeit? Antworten gibt ein Kommissionsbericht, der morgen offiziell publiziert wird und SonntagsBlick exklusiv vorliegt.

Micarna, Selecta und Saia

Die Experten schauten sich fünf Internierungsorte von knapp 700 im ganzen Land genauer an – eine Sisyphusarbeit: Oft waren wichtige Quellen vernichtet, etwa Personendossiers, die Verflechtungen unmöglich zu rekonstruieren.

Mit einer Ausnahme: Bellechasse, ein riesiger Gutshof im Kanton Freiburg, noch heute Strafanstalt. Dort fanden sich viele Quellen, in ihnen taucht eine Reihe von Unternehmen auf, die Zwangsarbeiter beschäftigten: Micarna, die Fleischproduzentin der Migros, dann Selecta, der Automatenhersteller, sowie das Freiburger Elektronikunternehmen Saia.

«Wir können anhand der vorgefundenen Quellen nachweisen, dass in diesen drei Unternehmen administrativ versorgte Menschen gearbeitet haben», sagt Historikerin Heiniger. «Die Anstalt zwang die Internierten zur Arbeit entweder im eigenen Betrieb oder in Unternehmen ausserhalb.» So sind etwa im Bellechasse-Jahresbericht von 1978 zehn Männer vermerkt, die bei Micarna im Nachbardorf Courtepin FR gearbeitet haben, wo noch heute ein Schlachthof der Migros-Tochter steht.

Keine Beiträge für AHV, IV oder PK

Wenn sie in der Anstalt arbeiteten, erhielten die Internierten für ihren Knochenjob ein sogenanntes Pekulium (Taschengeld), 1975 zwei bis vier Franken pro Tag, zehn Prozent eines normalen Lohnes. Beiträge für AHV, IV oder Pensionskasse wurden nicht bezahlt.

Dass Bellechasse ein Depot für billige Arbeitskräfte war, sprach sich auch bei den Unternehmern herum. Diese erhofften sich vom Einsatz der Zwangsarbeiter tiefe Produktionskosten, wie historische Briefwechsel belegen. Bellechasse wurde zu ­einem Treiber der wirtschaftlichen Entwicklung der Region.

Der Bundesrat entschuldigte sich

Ob Micarna, Selecta und andere ordentliche Gehälter zahlten oder von Dumpinglöhnen profitierten, wenn sie die Zwangsarbeiter in ihre Fabriken holten, wissen die Historiker nicht. Die Arbeitsverträge sind verschwunden. «Die Unternehmen haben sicher insofern davon profitiert, dass jeder ordentliche Arbeiter wusste, dass er theoretisch von einem Internierten hätte ersetzt werden können», sagt Alix Heiniger. Es sei auch um die Disziplinierung der eigenen Arbeiterschaft gegangen.

2010 entschuldigte sich die damalige Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf für das begangene Unrecht. Drei Jahre später bat Bundesrätin Simonetta Sommaruga ebenfalls um Entschuldigung. 2014 wurden die Opfer der administrativen Versorgung offiziell rehabilitiert und konnten eine Entschädigung fordern.

Wie aber steht es mit der Reue bei den Unternehmen?

Micarna weist Vorwurf zurück

Mit den Befunden der Expertenkommission konfrontiert, teilt Selecta mit, man sei bereit, sie genauer zu untersuchen. Weil in den eigenen Archiven kaum detaillierte Informationen vorlägen, sei man auf die Expertenkommission angewiesen. Sollten die Fakten eindeutig sein, sei man bereit, sich bei den Betroffenen zu entschuldigen. Zu allfälligen finanziellen Entschädigungen will Selecta nicht Stellung nehmen.

Micarna weist den Vorwurf, Zwangsarbeiter beschäftigt zu haben, weit von sich. Selber habe man nie Zwangsarbeiter eingestellt, die jungen Männer hätten unter der Auswahl, Leitung und Kontrolle der Strafanstalt in der Produktion der Micarna in Courtepin gearbeitet. «Die Häftlinge wurden stets von einem Wärter zu ihrer Arbeit begleitet, machten keine Probleme und pflegten einen guten Austausch mit den regulären Mitarbeitenden.» Die Migros-Tochter bezeichnet dieses Vorgehen als Integra­tionsprojekt, sieht sich als Helferin, die den Insassen von Bellechasse den Einstieg in die Berufswelt vereinfacht und den Häftlingen eine Abwechslung zum Gefängnistrott geboten habe.

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Jediglich Dienstleistung bezogen

Micarna sei nicht bekannt gewesen, aus welchen Gründen jemand einsass. Man habe lediglich eine Dienstleistung bei der Strafanstalt bezogen und den Arbeitern ein Taschengeld bezahlt. Die eigentliche Abrechnung sei über die Institution erfolgt. Diese Kosten seien vergleichbar mit jenen von «normalen» ungelernten Arbeitern gewesen. Wie viel der Einzelne dann ausbezahlt bekam, wisse man nicht.

Micarna ist der Auffassung, es sei nicht Sache von Unternehmen, gesellschaftspolitische Entwicklungen und Schweizer Geschichte aufzuarbeiten oder über Entschädigungszahlungen nachzudenken.

Was in der Stellungnahme nirgendwo auftaucht – ein Wort des Bedauerns.

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