Neutralität
Diese drei Optionen hat die Schweiz

Das Parlament agiert konfus, der Bundesrat blockiert. Doch der Druck aus dem Ausland steigt: Die Schweiz muss die Neutralitätsfrage lösen.
Publiziert: 12.03.2023 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2023 um 10:50 Uhr

FDP-Präsident Thierry Burkart (47) wollte westlichen Staaten die Wiederausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial ermöglichen. SP-Ständerat Daniel Jositsch (57) war dagegen: «Wenn man nicht auf der Seite des Guten steht, dann hilft man dem Bösen, dem Aggressor», sagte Jositsch am Montag. «Aber das muss man aushalten, wenn man neutral ist.» Dann donnerte er in den Saal: «Wenn Sie das nicht wollen: Bitte sehr, dann ändern Sie die Bundesverfassung! Machen Sie eine Volksabstimmung!»

Der Albisgüetli-Geist ergriff die kleine Kammer – entfacht von einem SP-Politiker. Burkarts Begehren fiel durch. Die Reaktion folgte auf dem Fuss: Am Mittwoch sorgten die Freisinnigen dafür, dass der Nationalrat einen ähnlichen SP-Vorstoss versenkte. Es war der vorläufige Höhepunkt einer immer nervöseren Debatte. Die Schweiz ringt um ihre Neutralität. Und um ihre Fassung.

Drei Jahrzehnte lang kümmerte sich niemand um die Neutralität, weder in der Schweiz noch im Ausland. Dann griff Putin die Ukraine an – und die Sache geriet über Nacht ausser Kontrolle. Der Bundesrat lehnte Sanktionen ab, weil sie der Neutralität widersprechen würden. Die Welt schrie auf. Worauf der Bundesrat die Sanktionen zuliess, weil sie der Neutralität doch nicht widersprechen würden.

Soll die Schweiz europäischen Staaten erlauben, gekaufte Waffen in die Ukraine zu exportieren?
Foto: Keystone
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Neutralität als Geschäftsmodell?

Der Streit um die Umsetzung begann: Nimmt der Bund die Sanktionen ernst? Brauchts eine Taskforce? Gehören Oligarchengelder gar konfisziert? Der Druck aus dem Ausland blieb hoch.

Dann hob eine zweite Debatte an – auch sie erzwungen durch ausländischen Druck: Soll die Schweiz die Wiederausfuhr von Waffen erlauben, die sie einst an Deutschland, Dänemark oder Spanien verkauft hatte? Wäre sie dann noch neutral?

Jetzt ging die Post erst richtig ab in Bern. Parlamentarier von links bis rechts überboten sich mit Vorschlägen, wie die Waffenlieferungen mit der Neutralität zu vereinbaren seien – und warum das auf andere Vorschläge nicht zutreffe. Das Problem ist nur:

Weder Sanktionen noch die Wiederausfuhr von verkauften Waffen haben mit dem Neutralitätsrecht etwas zu tun. Das sagt Thomas Cottier (73), emeritierter Professor für internationales Wirtschaftsrecht: «Im Haager Abkommen von 1907 über die Rechte und Pflichten von neutralen Staaten ist davon keine Rede.» Der Vertrag hält lediglich fest, dass neutrale Länder keinen Krieg führen dürfen und alle Kriegsparteien gleich behandeln müssen. Darum, so Cottier, sei es absurd, ein Nein zur Wiederausfuhr von geliefertem Kriegsmaterial mit der Neutralität und dem Haager Abkommen zu begründen. «Das internationale Recht hat sich seit 1907 entwickelt», sagt Cottier. «Doch wenn der Bundesrat über die Pflichten der neutralen Schweiz spricht, ignoriert er das Uno-Recht komplett.» Dieses verbietet Angriffskriege und unterscheidet zwischen Aggressor und Angegriffenem. Cottiers Fazit: «Bei einem Angriffskrieg müssen wir nicht beide Kriegsparteien gleich behandeln.» Er wünsche sich, dass diese Botschaft auch beim Bundesrat ankomme.

Finanzierung für Ukraine-Milliarden

Die Grünen fordern fünf Milliarden Franken für die Ukraine. Der Vorstoss wurde von Politikern aller Parteien unterzeichnet. Und die Finanzierung? «Dafür gibt es Geld, das schon gesprochen wurde», sagt Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey (47, Bild) und verweist auf den Verpflichtungskredit zur Unterstützung Not leidender Länder. Dieser umfasst bereits zehn Milliarden. So gäbe es kein Problem für die Bundeskasse, und die Schuldenbremse bleibe eingehalten, sagt Andrey. Er reicht in Kürze einen Vorstoss ein.

Die Grünen fordern fünf Milliarden Franken für die Ukraine. Der Vorstoss wurde von Politikern aller Parteien unterzeichnet. Und die Finanzierung? «Dafür gibt es Geld, das schon gesprochen wurde», sagt Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey (47, Bild) und verweist auf den Verpflichtungskredit zur Unterstützung Not leidender Länder. Dieser umfasst bereits zehn Milliarden. So gäbe es kein Problem für die Bundeskasse, und die Schuldenbremse bleibe eingehalten, sagt Andrey. Er reicht in Kürze einen Vorstoss ein.

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Historiker Sacha Zala (54) teilt Cottiers Analyse. «Völkerrechtlich bedeutet Neutralität im Grunde nicht viel mehr, als dass man keine Kriege führt», so der Professor für Schweizer Geschichte. Deshalb habe die Schweiz die Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik konstruiert. Denn: «Mit der Neutralitätspolitik kann man alles und sein Gegenteil begründen.»

Das schliesst die Möglichkeit ein, dass Neutralität zum Geschäftsmodell wird und hiesigen Unternehmen zweifelhafte Gewinne beschert. SP-Präsident Cédric Wermuth (37) formuliert es so: «Wie sollen wir Neutralität definieren, wenn in einem Krieg Panzer rollen, die wir finanziert haben?»

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Mal dies, mal das?

Im Zweckartikel der Bundesverfassung von 1848 steht die Neutralität nicht einmal drin. Sie galt stets als ein blosses Mittel, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu bewahren. Doch nach dem brutalen Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine steht der Begriff im Zentrum einer fiebrigen Auseinandersetzung. Die Konfusion ist mit Händen zu greifen: «Alle haben eine andere Idee davon, was Neutralität bedeutet», sagt Thierry Burkart.

Umso wichtiger wäre eine Landesregierung, die einen klaren Kurs vorgibt – schliesslich ist sie die oberste aussenpolitische Instanz. Doch der Bundesrat tut kaum mehr, als bei jedem Vorstoss aus dem Parlament auf die Neutralität zu verweisen. Am Freitag liess er zur Waffenfrage ausrichten, man wolle an der bisherigen Praxis festhalten und keine Wiederausfuhren zulassen. Begründung: «Der Bundesrat steht zu den Werten der Schweizer Neutralität.» Die FDP kritisierte die Verlautbarung umgehend als «Nichtentscheid».

Aussenminister Cassis hatte es versucht. Im letzten Frühling präsentierte er die Idee einer «kooperativen» Neutralität – ein Konzept, das eine engere Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Nato zulassen würde. Doch Cassis trug es in die Öffentlichkeit, ohne die anderen Bundesräte zu informieren. Die waren beleidigt und liessen ihn auflaufen. Eine alternative Vision haben sie allerdings nicht zu bieten.

«Der Bundesrat schafft zu wenig Orientierung», kritisiert Mitte-Präsident Gerhard Pfister (60). «Er überlässt die Verteidigung westlicher Werte anderen Ländern. Die Schweiz soll offenbar davon profitieren, ohne etwas beizutragen.»

Neun von zehn Schweizern für Neutralität

Sicher ist: Der ausländische Druck auf die Schweiz wird so rasch nicht enden. Die Eidgenossen müssen eine Entscheidung treffen. Sie haben drei Optionen.

Die SVP fordert eine Rückkehr ins Réduit – tiefer hinein als je zuvor, denn die Volkspartei will die immerwährende bewaffnete Neutralität in die Verfassung meisseln.

Die Schweiz könnte aber auch zum Schluss kommen, dass die Welt von heute eine offenere Interpretation der Neutralität erfordert. Eine kooperativere Form, die eine engere Zusammenarbeit mit dem Ausland zulässt und einen strikteren Umgang mit Aggressoren verlangt.

Cassis empfängt EU-Kommissar Sefcovic

Kommende Woche reist der für das Schweiz-Dossier zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic (56) in die Schweiz – für eine Gastvorlesung an

der Uni Freiburg. Auch ein Treffen mit Aussenminister Ignazio Cassis (61) steht auf dem Programm. Wobei dieses nicht in Freiburg, sondern in Bundesbern stattfindet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Denn Freiburg ist der Ort, an dem die Unterhändler der EU und der Schweiz vor genau zehn Jahren das Fundament für ein Rahmenabkommen legten – und bei dieser Gelegenheit auch den Grundstein für die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei Streitschlichtungen. Der EuGH ist bis heute der grosse Stolperstein in den bilateralen Beziehungen. Am letzten Dienstag musste die Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu (62) nach der 8. Sondierungsrunde für einen neuen Vertrag einräumen: «Es bleiben noch Differenzen.» Kein Wunder, zieht Cassis einen unverfänglicheren Ort für das Treffen vor.

Kommende Woche reist der für das Schweiz-Dossier zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic (56) in die Schweiz – für eine Gastvorlesung an

der Uni Freiburg. Auch ein Treffen mit Aussenminister Ignazio Cassis (61) steht auf dem Programm. Wobei dieses nicht in Freiburg, sondern in Bundesbern stattfindet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Denn Freiburg ist der Ort, an dem die Unterhändler der EU und der Schweiz vor genau zehn Jahren das Fundament für ein Rahmenabkommen legten – und bei dieser Gelegenheit auch den Grundstein für die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei Streitschlichtungen. Der EuGH ist bis heute der grosse Stolperstein in den bilateralen Beziehungen. Am letzten Dienstag musste die Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu (62) nach der 8. Sondierungsrunde für einen neuen Vertrag einräumen: «Es bleiben noch Differenzen.» Kein Wunder, zieht Cassis einen unverfänglicheren Ort für das Treffen vor.

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Oder aber die Eidgenossen verabschieden sich von der Neutralität, wie es schon die Schweden taten. Bloss diskutiert diese Möglichkeit hierzulande niemand. Umfragen zeigen: Neun von zehn Schweizern stehen hinter der Neutralität. Es scheint ein Denkverbot zu geben, das sie sich selbst auferlegen. Weil sie überzeugt sind, dass Neutralität zur Schweizer DNA gehöre. Dass es eine helvetische Identität ohne sie nicht geben könnte.

Pascal Couchepin (80) scheute das klare Wort noch nie. Auch in dieser Frage zeigt der freisinnige alt Bundesrat Kante: «Wir dachten auch lange von der Swissair, dass sie zur Schweizer Identität gehört. Heute wissen wir, dass unsere Geschichte auch ohne sie weitergeht.» Die Neutralität sei ein Mittel, sagt Couchepin. «Sie ist kein Zweck.»

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