Nach Praxis-Pleiten
Patienten kommen nicht an ihre Daten – das kann gefährlich werden

Nach dem Konkurs von Arztpraxen sind digitale Patientenakten verschollen. Was können Betroffene tun?
Publiziert: 30.11.2023 um 09:38 Uhr
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Aktualisiert: 05.01.2024 um 11:36 Uhr
Peter Johannes Meier
Beobachter

Der alte Hausarzt geht in Pension, die Patientendossiers übergibt er seinem Nachfolger oder gleich den Patienten, wenn sie das verlangen. So will es das Gesetz. Und so ist gewährleistet, dass Ärzte ihre Diagnosen und Behandlungen auf den vollständigen Krankengeschichten ihrer Patienten aufbauen können.

In den meisten Fällen klappt die Übergabe. Doch seit der Pleite einer ganzen Kette von Hausarztpraxen in mehreren Kantonen warten viele Patientinnen und Patienten noch immer auf ihre digitalen Akten.

Das abrupte Ende der 18 Praxen des deutschen Unternehmers Thomas Haehner hatte im Sommer schweizweit für Schlagzeilen gesorgt. Tausende von Patienten standen plötzlich vor verschlossenen Türen. Gesundheitsbehörden schritten ein und sicherten die Unterlagen.

Nach der Praxen-Pleite landeten Krankengeschichten auf der Strasse. Bis heute haben viele Patienten keinen Zugang zu ihren digitalen Akten.
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«Alles, was auf Papier ist, habe ich inzwischen auch erhalten», sagt eine Patientin aus dem Kanton Thurgau. Doch auf ihre digitalen Unterlagen warten sie und ihre ganze Familie bis heute. Es geht um Untersuchungsberichte und teure Bildaufnahmen, die für weitere Behandlungen wichtig sind.

Arzt wusste nichts von Unverträglichkeit

Das hatte Folgen. «Ein neuer Arzt verschrieb meinem Mann ein Medikament, das er nicht verträgt. Aus der digitalen Krankengeschichte wäre das hervorgegangen», sagt die ehemalige Haehner-Kundin. Für ihren Mann ging die Sache glimpflich aus. In anderen Fällen können die Folgen verheerend sein.

Die Thurgauerin hatte alles versucht, um an die Akten zu kommen. Doch ihre Schreiben an ehemalige und neue Ärzte der Praxis, Drei Birken in Freidorf und an das kantonale Gesundheitsamt brachten nur eine Gewissheit: Bis heute hat niemand Zugang zu den digitalen Akten der ehemaligen Haehner-Praxis.

Der Kanton stellte der Patientin lediglich Medienberichte über die Probleme mit dem Konkurs der Hausarztkette zu. Und verwies auf die gesetzliche Verantwortung der Ärzte.

Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Das tut der Kanton auch gegenüber dem Beobachter. «Das Amt für Gesundheit hat den Zugriff auf die digitalen Akten nicht erhalten. Es war uns insbesondere ein Anliegen, die physischen Akten sicherzustellen, damit diese nicht unsachgemäss gelagert wurden», so die Thurgauer Staatskanzlei.

Niemand hat Zugang zu den digitalen Patientenakten

Patienten seien darüber informiert worden, dass die «Aufbewahrung und Herausgabe der Patientendokumentation nach wie vor beim behandelnden Arzt liegt». Wer eine Praxis aufgibt, müsse sich daher «rechtzeitig um eine gute Lösung zur Aufbewahrung der Akten kümmern».

Doch genau das ist nicht geschehen. Weder die alten noch die neuen Ärzte der Haehner-Praxen haben noch Zugang zu den digitalen Daten. Entsprechend enttäuscht ist die Thurgauer Patientin über die Passivität der kantonalen Behörden. «Als Aufsichtsbehörde der Ärzte müsste der Kanton dafür sorgen, dass diese Akten wieder zugänglich werden.»

Dass dies möglich ist, zeigt ein Blick in andere Kantone. In Luzern sind inzwischen alle digitalen Akten aus ehemaligen Haehner-Praxen gesichert und für Patienten und deren Ärzte zugänglich. Die Daten werden von einem auf Archivierung spezialisierten Unternehmen gelagert.

Der Aufwand für diese Lösung war beträchtlich. Auch in Luzern war nicht das Papier das Hauptproblem, obwohl auch Patientenakten auf der Strasse entsorgt wurden.

Bildaufnahmen und weitere Daten unauffindbar

Vielmehr war lange unklar, was auf den zahlreichen Computern und Datenträgern in einer Praxis überhaupt gespeichert ist. Wo sind die Krankengeschichten, wo Röntgen- und andere Bildaufnahmen? Und wie kommt man an diese Daten heran?

«Jede Praxis arbeitete zudem mit anderen Softwaresystemen. Wir mussten darum IT-Experten von unterschiedlichen Herstellern damit beauftragen, den Zugriff auf die Daten zu ermöglichen», sagt David Dürr, Leiter der Luzerner Dienststelle Gesundheit und Sport. Die Softwarefirmen hätten zum Glück sofort kooperiert. Damit der Zugriff auch juristisch sauber läuft – es geht um höchst persönliche Krankendaten –, musste der Kanton zuerst mit einer Verfügung die rechtliche Grundlage schaffen. Insgesamt sind so zwei Monate vergangen, von der Schliessung der Praxen bis zum neuen Datenzugang für Patienten und deren Ärzte.

Auch der Kanton Zürich hat Datenträger und physische Akten aus ehemaligen Haehner-Praxen vorsorglich gesichert. Betroffen sind jene Praxen, für die es keine Nachfolgeregelung gab. «Wir führen derzeit Gespräche mit einem Unternehmen, das die Daten archivieren und künftig an Berechtigte herausgeben soll», heisst es beim Zürcher Gesundheitsamt.

Patientendossier selber verwalten

Die Haehner-Pleite macht offensichtlich, wie untauglich Zugang und Schutz bei Krankendossiers geregelt sind. Das Problem stellt sich verschärft, weil immer mehr Arztketten ehemalige Einzelpraxen und Hausärzte übernehmen. Für die Leitung der Praxen sind oft gar keine Mediziner mehr zuständig. Die Verantwortung für die Patientenakten liegt aber nach wie vor bei den behandelnden Ärzten. Der Kanton Zürich prüft jetzt gesetzliche Anpassungen, um den Zugang zu digitalen Patientendossiers zu sichern. Einheitliche Vorschriften könnten mehr Sicherheit schaffen.

Patienten, die auf Nummer sicher gehen wollen, haben nur eine Möglichkeit: Sie müssen ihr Patientendossier selber verwalten, sich alle neuen Berichte zustellen lassen, digital oder auf Papier.

Zwar können Privatpersonen ein elektronisches Patientendossier (EPD) eröffnen, in das Ärzte ihre Berichte auch selber einspeisen könnten. Doch die meisten Ärzte weigern sich nach wie vor, mit EPDs zu arbeiten. Der Ärzteverband schreibt, warum: «Es braucht zwingend spezifische Abrechnungspositionen im Tarifsystem, damit Leistungen im Kontext des EPD abgerechnet werden können.» Es geht ums Geld.

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