Eltern von Céline (†13) wollen härtere Strafen
Anti-Folter-Experte hilft im Kampf gegen Cybermobbing

Cybermobbing soll unter Strafe gestellt werden, verlangen die Prix-Courage-Preisträger Nadya und Candid Pfister. Sie sind die Eltern von Céline, die sich wegen Cybermobbing das Leben nahm. Jetzt erhalten sie Hilfe von Nils Melzer, Uno-Experte für Folter.
Publiziert: 21.11.2020 um 14:38 Uhr
Yves Demuth, «Beobachter»

Soll man Jugendliche härter anfassen, wenn sie auf Social Media mobben? Wenn sie etwa einen Teenager auf Instagram mit freizügigen Bildern seiner Würde berauben – vor Hunderten anderer?

Céline Pfister aus Spreitenbach AG wurde auf solche Art gemobbt. Sie litt schwer und brachte sich mit 13 Jahren um, wegen Cybermobbing. Die Haupttäter kamen glimpflich davon. Die beiden Minderjährigen wurden zu ein paar Tagen gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

«Realität wurde beschönigt»

Einerseits, weil das Jugendstrafrecht Minderjährige erziehen und nicht ­bestrafen will. Andererseits, weil das Jugendgericht im Fall von Céline nur versuchte Drohung und Beschimpfung sowie Nötigung als Straftat­bestand anerkannte. Ob sie durch gehäuftes, kontinuierliches Cybermobbing misshandelt wurde, hat das Gericht gar nicht bewertet. Es beurteilte nur einige wenige Einzeltaten, zu denen es beim Mobbing gekommen war.

Céline Pfister aus Spreitenbach AG litt schwer unter Cybermobbing und nahm sich deswegen mit 13 Jahren das Leben.
Foto: Zvg
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Célines Eltern, Nadya und Candid Pfister, haben dafür kein Verständnis. Ihre einzige Tochter ist tot. Doch das Gericht hat nicht einmal das Ausmass des Cybermobbings anerkannt. «Die Jugendstaatsanwaltschaft hat das monatelange Cybermobbing auf zwei Personen aufgestückelt und somit die Realität beschönigt», sagt Nadya Pfister. «Das Gesetz genügt nicht.»

Cybermobbing soll ins Strafgesetz

Das Ehepaar Pfister engagiert sich seit Célines Tod gegen Cybermobbing, dafür hat es den Prix Courage des «Beob­achters» erhalten. Pfisters fordern, dass im Strafgesetz ein Tatbestand Cybermobbing eingeführt wird, wie das in Österreich der Fall ist. Bestraft wird dort, wer ein Opfer online längere Zeit immer wieder in der Ehre verletzt, sodass es für eine grössere Zahl anderer wahrnehmbar ist, und der Täter das Opfer in seiner Lebensführung unzumutbar beeinträchtigt.

Falls Cyber­mobbing zu einem Suizidversuch oder zu Suizid führt, drohen einem erwachsenen Täter bis zu drei Jahre Gefängnis, 16- bis 18-Jährigen bis zu eineinhalb. Wer jünger ist, muss in Österreich mit Erziehungsmassnahmen rechnen.

150'000 Jugendliche sind betroffen

In der Schweiz gibt fast jede vierte Jugendliche an, sie sei bereits einmal im Internet fertig­gemacht worden. Das sind mehr als 150'000 Mädchen und Buben. Die Polizei erfährt nur selten davon.

Dennoch eröffnet die Staatsanwaltschaft allein im Kanton Zürich mittlerweile alle zwei Wochen ein Strafverfahren gegen Jugendliche wegen Ehrverlet­zungen auf Social Media, per Sprachnachricht oder im Gruppenchat. Es geht um Beschimpfungen, Fake­Profile oder Fake-Fotos. Zum hässlichen Cyberalltag der Jugend zählt auch Nötigung mit Fotos. Acht Strafverfahren gegen Jugendliche gab es letztes Jahr in Zürich.

«Jugendliche sind zu leichtgläubig»

«Cybermobbing ist eine psychische Misshandlung. Es kann bei Jugend­lichen zu Depressionen und Suizid­gedanken führen», sagt Markus Wopmann, Kinderarzt am Kantonsspital Baden und Mitglied der Kinderschutzgruppe. Er behandelt jugendliche Opfer. Dass sie sich kaum wehren könnten, wirke sich auf die Psyche der Jugendlichen besonders negativ aus.

Beobachter
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

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«Leider melden sich Jugendliche, die Cybermobbing beobachten, selten bei einer Fachstelle», so Wopmann. Viel eher würden Eltern, Lehrerinnen oder Schulsozialarbeiter davon erfahren. Die Kinder müssten bereits mit elf Jahren aufgeklärt werden, mit zwölf sei es ­vielleicht schon zu spät. «Ich bin immer wieder überrascht, wie leichtgläubig Jugendliche Fotos von sich versenden, die ihnen schaden können.»

Gemobbte leiden bis ins Erwachsenenalter

Dass digital gemobbte Kinder bis ins Erwachsenenalter leiden können, weiss auch das Parlament. Extrageld für eine Präventionskampagne will der Bundesrat aber nicht sprechen. Er schiebt die Verantwortung den Kantonen zu. Dort unterrichten meist Polizistinnen in Schulklassen über Cybergefahren. Das geschieht in vielen Kantonen zu spät oder nur, wenn es die Lehrerin wünscht.

Die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter fordert eine härtere Gangart. Sie will einen Straftatbestand Cybermobbing einführen, wie es Nadya und Candid Pfister fordern. Ihre parlamentarische Initiative wird die Rechtskommission des Nationalrats bis im Sommer beraten. «Ein eigener Straftatbestand unterstreicht, dass wir Cybermobbing nicht tolerieren», sagt Suter. Das habe eine vorbeugende und abschreckende Wirkung und stärke die Stellung des Opfers.

Widerstand im Parlament

Es gehe ihr nicht um härtere Strafen, sondern um die Probleme bei der Strafverfolgung, sagt Gabriela Suter. «Die bisherigen Tatbestände wie Nötigung oder Beschimpfung werden dem Delikt Cybermobbing nicht gerecht.» Widerstand ist Gabriela Suter gewiss. Etliche Juristen im Parlament finden, ein ­neuer Straftatbestand sei unnötig.

Nicht so Rechtsprofessor Nils Melzer, seit vier Jahren Uno-Sonderbericht­erstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder er­niedrigende Behandlung. «Ein Straftatbestand Cybermobbing schützt die Jugend besser», sagt er. Melzer setzt sich bei der Uno dafür ein, dass Cybermobbing als eine Form von Misshandlung oder Folter anerkannt wird, etwa im Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange, für den er sich eingesetzt hat.

«Man hinkt der elektronischen Realität hinterher»

«Der Beobachter» nominierte Melzer für den Prix Courage wegen seines Engagements. Vor der Preisverleihung trat Melzer mit Pfisters und Gabriela Suter in Kontakt, um sie bei ihrem Kampf gegen Cybermobbing zu unterstützen.

Die psychische Misshandlung durch Cybermobbing begreife nur, wer das Gesamtbild im Auge behalte. «Unser Strafrecht splittet Mobbing in Einzelhandlungen auf und verpasst damit das Wesentliche», sagt Melzer. Es hinke der elektronischen Realität hinterher. «Das Strafrecht des 20. Jahrhunderts reicht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr.»

«Cybermobbing wird nicht ernst genommen»

Nils Melzer hat vor dem Uno-­Menschenrechtsrat in Genf bereits im vergangenen März über die zunehmende Gefahr von psychischen Misshandlungen im digitalen Raum berichtet. «Cybermobbing wird von den Staaten weltweit noch nicht genug ernst genommen.»

Die Schweiz habe gemäss der UN-Antifolterkonvention die Pflicht, ihre Bürgerinnen und Bürger vor Folter und anderer Misshandlung zu schützen, auch bei privaten Tätern. Dazu ­zähle auch das Cybermobbing.

«Zuschauer sind Möglichmacher»

Melzer unterstützt die parlamentarische Initiative von Gabriela Suter. «Das Völkerrecht verlangt den Schutz unserer Jungen vor Cybermobbing.» Die Schweiz könne hier eine Vorreiterrolle einnehmen, sagte Nils Melzer während der Online-Diskussionsrunde des Beobachters zu Cybermobbing, an der auch Nadya und Candid Pfister sowie Mobbing-Expertin Christelle Schläpfer teilnahmen.

Schläpfer will auch jene in die Pflicht nehmen, die Mobbingvorfälle tatenlos mitverfolgen. Warum? «Zuschauer sind Möglichmacher. Sie billigen die Situation, indem sie nichts sagen. Die Täter machen weiter, weil sie ihre Bühne ­haben.» Eine Schülerin müsse Cybermobbing ihrer Lehrerin melden können, ohne dass ihr Name publik wird. Das Publikum dürfe nicht zu lange schweigen. «Weil es psychisch gesehen Folter für das Opfer ist.»

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